,,[D]ie größte Weisheit verrathet sich . . ." Johann Peter Hebels Anleitungen zum Selbermerken

This article is a close reading of the opening paragraphs of Johann Peter Hebel's early calendar piece Über die Verbreitung der Pflanzen (On the Dissemination of Plants), which draws upon thematically and intertextually related passages from his oeuvre and from Martin Luther's translation of the Bible. It outlines Hebel's conceptualization of humankind's role within and relation to creation as a 'whole,' demonstrating how the actualization of that role is not predetermined, but is contingent upon a person's ability to perceive what appears selfevident or simple in nature as wondrous and manifold. In this context, Hebel's language plays a crucial role in that, rather than acting prescriptively, it constitutes a performative approach which allows the inclined reader to notice [merken] on his or her own account—that is, to take note that nothing is yet understood.

Schon Doktor Luther hat einmal so etwas verlauten lassen, und der gelehrige Leser begreifts ein wenig aber doch nicht recht.

Johann Peter Hebels Arbeit am Badischen Landkalender–später Rheinländischer Hausfreund–war von Anfang an ein im umfassenden Sinne pädagogisches Projekt, sollte es doch sowohl den Leser unterrichten, als auch den Unterricht am Karlsruher Gymnasium illustre finanziell ermöglichen. Das, wovon und mit dem Hebel den Kalenderleser unterrichtet, reicht allerdings weit über den jeweiligen Gegenstand seines Beitrages hinaus. Geht es doch bei der freundschaftlichen Kalenderpädagogik nicht zuerst oder wenigstens nicht allein darum, dass der geneigte Leser und unwissende Schüler am Ende meint, etwas verstanden zu haben oder gar zu wissen. Vielmehr gibt Johann Peter Hebel dem verständigen Leser Anlässe und Anleitungen etwas zu merken. Nicht zufällig versammeln sich in Hebels Beiträgen zum Landkalender bzw. Hausfreund allerlei ,,Merkwürdigkeiten", sowohl aus dem direkten Einzugsgebiet der Leserschaft als auch aus aller Welt, eben unter diesem Wort.1 Der Stellenwert des Merkens für den Unterricht des Kalendermachers ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass im Moment des Merkens eben noch nichts begriffen oder verstanden ist. Darum besteht im Vokabular des Hausfreunds zwischen dem Verstehen (oder Begreifen) und dem Merken, trotz ihrer relativen semantischen Nähe, vor der Galerie der jeweiligen Wortgeschichten, einen entscheidenden Unterschied. Denn das, was in stenografierter Denotation sowohl ,,auf etwas achten" (Grimm, ,,merken, verb.", 2099) als auch ,,ins Gedächtnis fassen, im Gedächtnis behalten" (2101) bedeutet, entwickelte sich aus der mittelhochdeutschen Bedeutung für etwas ,,mit einem Zeichen versehen, kenntlich machen" (2093). Das externe Markieren als Notwendigkeit [End Page 55] des Merkens verliert sich im Wortgebrauch, und Merken meint alsbald ,,für das Gedächtnis bezeichnen, notieren" (2094), welches das Merken schließlich in das Vokabular der Epistemologie überführt. ,,Merken" bezeichnet ,,Erkennen", oder das ,,durch Kennzeichen inne werden" (2094), wenn man ,,Sinn und Gedanken auf etwas richte[t]" (2099). Hebel geht aber in seinem Gebrauch nicht soweit, dass er das Merken in den Lehrgängen seiner Kalenderprosa mit erfahrener Erkenntnis verwechseln würde. Das Begreifen des Gegenstandes seiner Geschichten, Rätsel und Betrachtungen–unabhängig von der Frage, ob diese überhaupt möglich sei–bleibt der Verständigkeit des Lesers überlassen. Wohl aber markiert das Merken des Hausfreunds eben jenen Vorgang oder Moment, in dem das menschliche oder leserliche Wahrnehmungsvermögen aus dem Spektrum des Erfahrbaren einen Teil als achtund verinnerlichbar zu markieren sucht. Das Zeichen oder das Signum des Merkens birgt zwar in der Arbeit des Merkens als Bezeichnen die Gefahr jeder symbolischen Ordnung–nämlich, dass das Zeichen mit dem Bezeichneten verwechselt würde, und dass das fixierte Signum der Bedeutungsdynamik des Markierten nicht gerecht wird oder bleibt. Doch anders als das Verstehen–welches im Hausfreund vor allem als Abwesenheit oder doch höchstens als Potential registriert wird (trifft man doch im Kalender neben allerlei Un- und Missverstand hauptsächlich den verständigen und nicht den verstehenden Menschen an2)–erlaubt das Merken eine Art Sicherheitsabstand zum oftmals täuschenden Eindrucks des Verstanden-habens.3

Nirgends aber wird diese Funktion des Merkens deutlicher, als in Hebels Art, die Moral zu seinen Geschichten zu machen. Meist eingeleitet mit dem knappen Imperativ ,,Merke"4, schlägt sie sich–so hat Walter Benjamin es in seiner Verteidigungsschrift gegen Hebels ,,neuen Bewunderer" Hanns Bürgisser anschaulich beschrieben–,,auf die Seite der Spitzbuben" (Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. III, 205). Einem unvermuteten Tabubruch gleich, stellt sie den Abstand wieder her zu dem, was man meint gelesen und verstanden zu haben. Hebels Moral ist martialisch, steht windschief zu dem, was sie kommentiert, und gleicht so einer ,,unglaublich frechen Gebärde" (205), deren Effekt Benjamin in seiner Beschreibung dem frechen Slapstick-Humor Charlie Chaplins oder Stan Laurels und Oliver Hardys verwandt macht. Das Unglaubliche und Plötzliche des Hebelschen ,,Merke" ist wie die Stunde, die einem unhörbar schon geschlagen hat, wenn man zu spät ist.5 Nicht zuletzt darum ist Benjamins Vergleich zwischen Hebels Prosa und einer Weltenuhr so treffend: ,,Wenn Hebels Geschichten ein Uhrwerk sind, dann ist das ,Merke' ihr Zeiger" (206). Das ,,Merke" als Zeiger ist aber nicht bloß Signum Hebels für/von Moral, sondern letztlich Siegel seiner Kalenderprosa schlechthin, unabhängig davon, ob sie im Wort jedes Mal expliziten Ausdruck findet. Es steht gut sichtbar wie ein Monolith im Zentrum der Allmende, auf welcher der geneigte Leser die Neuigkeiten und Geschichten des Hausfreundes wie Blumen pflückt. Doch stellt sich das Hebelsche ,,Merke" niemals monolithisch [End Page 56] in den Text. Der Imperativ ist Modus und Maß, nicht aber einer setzenden Moral, die das Signum selbst als konsumierbare Erkenntnis befiehlt. Der Modus markiert vielmehr die Erinnerung daran, dass hier noch nichts verstanden ist, solange die Moral nicht selbst wieder als uns entgegenstehende Merkwürdigkeit markiert worden ist. Das Merken bei Hebel ist anhaltendes Merkeln–,,secando aut scindendo aliquid discerpere, lacerare, laniare" (Grimm, ,,merkeln, verb.", 2093)–also ein Spalten, Schneiden, Reißen an dem, was unserer Gewohnheit nach nicht bemerkt wird oder als verstandenes Ganzes gilt.

Wenn aber Hebels ,,Merke" die Marke und Markierung seiner Kalenderprosa vorstellte, dann wäre sein Kannitverstan das sigillum–die Miniatur im erhärtenden Wachs seines Werkes–welches diesem Siegel als translatio continuata eindrücklich hinterlassen wurde. Als Protagonist des Kannitverstan wirkt ein ,,deutscher Handwerksbursche" aus ,,Duttlingen", welcher zwar ,,durch den Irthum zur Wahrheit" kommt, dessen ,,Erkenntnis" der Wahrheit jedoch das Verkennen seines Irrtums miteinschließt (Hebel, Schriften, Bd. 2, 132). Treibendes Moment der Erzählung ist die Fehlleistung des Burschen, die minimale phonetische Differenz zwischen dem deutschen ,,kann nicht verstehen" und dem niederländischen ,,kan niet verstaan" zu überbrücken. Stattdessen wird ihm das gehörte ,,Kannitverstan" zum Eigennamen und damit auch zur validen Antwort auf seine auf Deutsch gestellten Fragen. Seine Vorstellungskraft erschafft auf dieser Grundlage den Herrn Kannitverstan, den er zwar zunächst beneidet, da er scheinbar Besitzer eines stattlichen Hauses und eines florierenden Importhandels ist, den er aber auch zutiefst zu bedauern lernt, wenn er noch am selben Tag an seiner vermeintlichen Beerdigung teilnimmt. Das Begräbnis beschert dem Duttlinger Einsicht in die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge und erfüllt ihn mit einer tiefen Dankbarkeit für den Umstand, dass er noch am Leben ist. Doch bis zum Schluss der Geschichte entzieht sich dem Protagonisten die Einsicht in seine eigenen sprachlichen Fehlleistungen, oder mit anderen Worten: er versteht eben nicht, dass er nicht verstanden hat; oder aber: er kann das Nicht-Verstehen nicht verstehen.6 Und so klingt darin, wie Hebel die Geschichte zu Ende bringt, nicht eigentlich Lob für die gefundene Demut, sondern auch ein klagender Unterton mit, wenn sich der Handwerksbursche auf die vertraute Muttersprache und sinnliche Genüsse zurückzieht: ,,Endlich gieng er leichten Herzens mit den andern wieder fort, verzehrte in einer Herberge, wo man Deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück Limburger Käse" (134).

Das Nicht-Verstehen als Zustand, vielmehr aber noch das Nicht-Denken als ausgesetzter Vorgang, dienen somit als Ansatzpunkt einer negativen Kritik, die sich nicht, wie vielleicht andere pädagogische Ansätze, allein an dem von Menschen definierten Bildungsstandard eines räsonierenden Subjekts orientiert. Beide Gegenstände der Kritik beschreiben, zunächst unabhängig von jeder moralischen Wertung, die in jedem Augenblick erneut gegebene [End Page 57] ,natürliche' Grenze dessen, was dem Menschen erfahrbar und kommunizierbar entgegensteht.

Hebels Kannitverstan erschien im Kalender des Rheinländschen Hausfreundes für das Jahr 1809; und obschon es gerade diese Kalendergeschichte ist, die dem Unterschied zwischen achtsamen Merken und mitunter unachtsamen Verstehen(-meinen) ein Merkmal setzt, so ist der Beitrag keinesfalls der früheste oder in seinen Konsequenzen weitreichendste. Die Frage nach dem Merken, wie der Mensch durch das Merken mit und in seiner Sprache sich zu und in der Schöpfung als ,Ganzes' positioniert und verhält, stellt Hebel bereits in seinen ersten Kalenderbeiträgen. Diese insgesamt fünf Texte–darunter Merkwürdigkeiten aus dem Morgenlande, Ein merkwürdiges Rechenexempel und Über die Verbreitung der Pflanzen–erschienen im Badischen Landkalender auf das Jahr 1803. Letzteren Text veröffentlicht Hebel im Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes–ein Buch, welches laut Autor die bis dato (1811) ,,besten Aufsätze [ . . . ] samt den mittelmäsigen" des Kalenders enthält (Hebel, Bd. 3, 599)–mit leichten Änderungen unter dem Titel Des Adjunkts Standrede im Gemüsegarten seiner Schwiegermutter wieder; und das obwohl das Stück im Vergleich mit den ebenfalls wiederpublizierten Merkwürdigkeiten aus dem Morgenlande im Bezug auf das von Hebel avisierte studium placendi7 deutlich abzufallen scheint. Der naturkundliche Erzählgegenstand, die Abwesenheit von Hebels charakteristischen, wiederkehrenden Figuren des Kalenders–wie dem Zirkelschmied oder dem ZundelFrieder [sic]–, welche dem Leser den Betrachtungsgegenstand amüsant vermitteln könnten, lassen den Text einfach oder gar schlicht erscheinen. Doch auf eben dieser von der Forschung kaum betrachteten Textscholle pflanzt Hebel die Keimzelle für das weitreichende ,pädagogische' Anliegen seines Kalenderprojektes. Entscheidend für diese Beurteilung ist die Art und Weise, in welcher Hebel Sprache–sei es das Deutsch Luthers, das seiner Badischen Zeitgenossen, Lateinisch, Griechisch oder Hebräisch–zu mobilisieren vermag. Wie und wo er seine wohlgewählten Worte setzt, macht genau das performativ erfahrbar, was das Lesestück selbst gegenständlich verhandelt.

Über die Verbreitung der Pflanzen hebt mit einer fast beiläufigen Bemerkung zu einem Eindruck, den jeder von Hebels Lesern haben könnte–nämlich der Verwunderung über die allgegenwärtige Pflanzenwelt an: ,,Man kan [sic] sich nicht genug über die Menge und Mannigfaltigkeit der Pflanzen verwundern, mit welchen die Natur alle Jahre die Erde bekleidet" (Hebel, Bd. 2, 7). Die Wendung von der Unmöglichkeit des erschöpfenden Verwunderns stellt sich nicht nur hyperbolisch, sondern auch emphatisch in den Satz. In der Emphase zeigen sich aber gleich zwei Umstände oder Klagen, deren Reichweite der unbedarfte Leser (und wer könnte sich bei der ersten Lektürenicht zu diesem Kreis zählen?) zunächst nicht zu ahnen beginnt. Die Wen-dung beklagt einerseits den Umstand, dass die begrenzte Verwunderungsgabe des Menschen stets nur eine unvollkommene Erfahrung der Natur erlaubt. [End Page 58] Andererseits demonstriert sie, wie zwei oder mehrere Dinge–oder hier Lesarten–nebeneinander als Gleich-Gültige in einer Wahrnehmung sich behaupten können, während der Betrachter oder (unter Umständen) Leser keiner von ihnen Achtung schenkt, obwohl er es könnte.

Die Unmöglichkeit, sich ausreichend über die Natur zu verwundern, bedeutet aber eben auch, dass das Verhältnis des Menschen zur Schöpfung, deren Teil und Verweser er zugleich sein soll, notwendigerweise nur als unvollkommen verstandenes besteht. Vereinfachende Annahmen oder Hoffnungen–gegründet in Bibellektüren oder Kirchendogmen–, dass die Schöpfung als ,Ganzes' dem Menschen die Erfahrung der göttlichen Totalität, auf welche sie verweist, schon vor dem jüngsten Tag erlaube, stellt dieser erste Satz des Kalenderbeitrages so bereits in Frage. Wenn nämlich Teilhabe an der Schöpfung nach alttestamentlichem Vorbild (Gen. 1,28–30) als Eigentumsoder Herrschaftsverhältnis verstanden wird, dann stellt sich die Frage, ob das Merken und Wahrnehmen nicht unbedingt die wichtigste Voraussetzung oder Form des Sich-Untertan-machens vorstellt.

Vnd Gott segnet sie / vnd sprach zu jnen seid fruchtbar vnd mehret euch / vnd füllet die Erden vnd macht sie euch vnterthan. Vnd herrschet vber Fisch im Meer / vnd vber Vogel vnter dem Himel / vnd vber alles Thier / das auff Erden kreucht.

Vnd Gott sprach Sihe / Ich hab euch gegeben allerley Kraut dz sich besamet auff der ganzē Erden vnd allerley fruchtbare Beume / und Beume die sich besamen zu eiver Speise / Vnd aller Thier auff Erden / vnd allen Vogeln vnter dem Himel / vnd allem Gewürm / das da lebet auff Erden / das sie sie allerley grün Kraut essen. Vnd es geschah also

(Gen. 1,28–30. Luther).

In der göttlichen Anweisung–dem ,,macht"–liegt die Aufforderung zu einem Handeln, also notwendigerweise zu einem Vorgang, von dem man allerdings mit Blick auf das Ende des Verses 30 annehmen könnte, dass dieser bereits zu einem Abschluss gebracht worden wäre. ,,Vnd es geschah also" kann aber auch sagen, dass die Anweisung befolgt wurde, sobald der Mensch begann, sich die Schöpfung untertan zu machen. Luther selbst scheint letztere Lesart zu bevorzugen, schreibt er doch in der hier zitierten Übersetzung im Kommentar ,,b" zu dieser Passage, dass die ,Herrschaft' des Menschen kein Status quo ist: Der Mensch muss sich die Erde ,,vnterthan" machen; und Luthers exemplum für das menschliche dominium terrae ist der Ackerbau, sprich, die Arbeit der Kultivierung. ,,(Vnterthan) Was jr bawet und erbeitet auff dem Lande / das sol ewer eigen sein / vnd die Erde sol euch hier in dienen / tragen vnd geben" (Biblia, 1. Kommentar b). Id est: Eine wesentliche Intervention, die das Herrschaftsmodell entweder einschränkt oder doch wenigstens den Anspruch auf Besitz von dem auf vollendete Herrschaft abkoppelt. Diese Untergliederung des dominium terrae, in welchem das vom Menschen kultivierte–das heißt angebaute, gepflegte, bewirtschaftete und entwickelte–Land als Eigentum dem Menschen zugeordnet ist, demarkiert [End Page 59] auch die Grenzen der dem Menschen eigenen Wahrnehmung der tragenden und gebenden Welt. Wenn aber das ,Untertan-machen' als göttlicher Imperativ Bestand hat, und der Mensch den Vorgang ernsthaft–also in anhaltender Annäherung an die Vollendung–vorantreiben muss, ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit des Bemerkens und Notwendigkeit des Beherrschens. Alles, ,,das auf Erden kreucht" zu beherrschen, bedeutet auch, all dessen gewahr zu werden, was auf Erden gedeiht. Herrschaft über das Unbekannte scheint unmöglich oder bestenfalls unvollkommen. Die Schöpfung als ,Ganzes' zu bemerken oder zu kennen muss als unmögliche oder wenigstens unendliche Aufgabe gelten–sei es für den einzelnen Menschen oder die Menschheit. Trotzdem ist die Weisung des ,Machens' nicht zu ignorieren, will der Mensch seine ihm zugedachte Rolle im Gefüge der Schöpfung nicht verfehlen.

Im Spannungsfeld dieser Genesislektüre steht Hebels Stück Über die Verbreitung der Pflanzen. Es beginnt, wie gesagt, mit dem Wort über die mangelnde Verwunderung, um mit der Beobachtung fortzufahren, dass der Gegenstand seines Aufsatzes im Alltag nicht umfassend durch seine Mitmenschen überblickt und daher auch nicht verstanden wird. Das liege nun zum einen an den Eigenschaften des Gegenstandes, zum anderen aber auch an den Rezeptionsgewohnheiten der Leser Hebels, beziehungsweise der Menschen schlechthin. Das Außergewöhnliche, die wirklich bemerkenswerte Fertilität und Verbreitung der Flora, sind Naturkräfte, die das menschliche Auge, ,,[i]n dem kleinen Raum, den [es] auf einmal überschauen kann" in ihrer ,,Menge und Mannigfaltigkeit" nicht gewahr wird. Es ist aber nicht bloß die Quantität und Varietät, sondern auch die Verbreitungsgeschwindigkeit, die das rezeptive Vermögen des Alltagsmenschen zu übersteigen droht (Hebel, Bd. 2, 7).

Nicht weniger muß man sich wundern über die Geschwindigkeit mit welcher die Natur jede leere Stelle auf öden Feldern, verlassenen Wegen, kahlen Felsen, Mauern und Dächern, wo nur eine handvoll fruchtbare Erde hingefallen ist, ansäet und mit Gras, Kräutern, Stauden und Buschwerk besetzt

(7).

Dieser Teil der bewundernswerten Eigenschaften der hervorbringenden Kraft wird in ihrer Radikalität dem menschlichen Verwundern entzogen. Das Wundersame bleibt, genau wie die scheinbar wahllos, doch entschlossen greifenden Wurzeln aller Triebe, unterhalb der Oberfläche oder Krume verborgen, nicht weil es sich selbst eingrübe oder entzöge, sondern weil die menschliche (Un-)Achtsamkeit der Gewohnheit nach das Wunder als bereits Abgedroschenes einspeichert. Was der Leser nicht beobachten kann–weshalb er auch Probleme hat, es zu merken und zu ,,achten"–, ist sowohl das Bild der vegetativen Landnahme als auch die rhetorische Okkupation, die gleichsam militärisch den Satz mit derselben Zeitlichkeit in Beschlag nimmt–oder genauer: genommen hat–, wie die Natur eine Handvoll Erde. Der Einmarsch [End Page 60] auf beiden Ebenen, der sprachlichen und gegenständlichen, erfolgt schnell, erfolgreich und mit großer Selbst-, aber kleiner Fremd-Verständlichkeit. Die Einsicht, dass eine ,,handvoll fruchtbare Erde", entblößt und trotzdem unberührt in ihrem Potential, am Anfang einer blühenden Welt gestanden haben muss, entdeckt sich nur und erst im Perfekt–soll heißen, in der Vollendung ihrer Gegenwart und im Verhältnis ihrer Zeitlichkeit zum Präsens der Besetzung selbst. Das offene Potential, die Fruchtbarkeit der Handvoll Erde, postuliert sich als Erinnerung–ein Nachbild des Vorzeitigkeitstempus menschlicher Wahrnehmung. Die fruchtbare Erde ist gefallen, aber die Natur besetzt anhaltend gegenwärtig.

Die Geschwindigkeit oder Zeitlichkeit im Spannungsfeld des Verbs ,,besetzen" als Wortwahl zur Beschreibung der pflanzlichen Landnahme stellt Hebels Abhandlung zur Verbreitung der Pflanzen an dieser Stelle unvermutet in die Nähe einer auf den ersten Blick unverwandten Arbeit. In dieser untersucht Hebel innovativ und unorthodox die biblische Wendung vom ,,Dieb in der Nacht", die sich im Neuen Testament an verschiedenen Stellen finden lässt–zum Beispiel im zweiten Brief Petri oder in der Offenbarung des Johannes– und jeweils das Kommen des ,,Tags des Herrn" zu beschreiben sucht (siehe Schestag, 159–258). Der wendige Dieb ist dabei ein stilistisches Addendum zu Passagen bei Matthäus und Markus, in denen der Tag des Herrn eben als jener geschickte Eindringling beschrieben ist. Über diese Wendung wird also der Advent des Herrn vom Jesuswort in den älteren beiden Evangelien bis hin zur Johannesoffenbarung vergleich- und verwechselbar gemacht mit einem ,,Dieb in der Nacht", den der vermeintliche Hausvater oder die vermeintlichen Hausväter erst dann bemerkt oder bemerken, wenn er schon da ist.

ES wird aber des HErrn tag komen / als ein Dieb in der nacht / Jn welchem die Himel zergehen werden / mit grossem krachen / Die Element aber werden fur hitze schmeltzen / Vnd die Erde vnd die werck die drinnen sind / werden verbrennen (2 Petr. 3,10). So du nicht wirst wachen / werde ich vber dich komen / wie ein Dieb / vnd wirst nicht wissen welche stunde ich vber dich komen werde (Offb. 3,3). DArumb wachet / Denn jr wisset nicht / welche stunde ewer Herr komen wird. Das solt jr aber wissen / Wenn ein Hausvater wüste / welche stunde der Dieb komen wolt / So würde er ja wachen / vnd nicht in sein haus brechen lassen. Darumb seid jr auch bereit / Denn des menschen Son wird komen zu einer stunde / da jr nicht meinet (Mt. 24,42–44). SEhet zu / wachet vnd betet / Denn jr wisset nicht / wenn es zeit ist. [. . .] So wachet nu / Denn jr wisset nicht / wenn der Herr des hauses kompt / Ob er kompt am Abend / oder zu Mitternacht oder vmb den Hanenschrey / oder des Morgens / Auff das er nicht schnelle kome / vnd finde euch schlaff end. Was ich aber euch sage / das sag ich allen / Wachet (Mk. 13,33 und 35–37).

[End Page 61]

Hebel hat sich intensiv und über eine lange Zeitspanne hinweg mit der stehenden Wendung vom Dieb in der Nacht auseinandergesetzt– und dies nicht bloß aus einem ,,beruflichen" Interesse an Dogmatik und Eschatologie. Zunächst, mit diebischer Freude an einem der Bibel entwendeten Sprachspiel, hält die Wendung Einzug in Hebels Briefwechsel; das erste Mal bereits im Mai 1800 in einem Schreiben an seinen Freund Sebastian Engler. Hebel lotet in dem Brief unter anderem die Möglichkeit eines Besuchs beim Freund im nahegelegenen Schopfheim aus. Die Besatzung Badens durch die napoleonischen Revolutionstruppen machen eine genaue Planung indes unmöglich, hängt die Reise doch vom Garnisonsdienst und dem einquartierten Feldwebel ab: ,,Obs indessen auf den nächsten Oktober geschehen werde, kann ich nicht sagen, da ich kraft meiner Sendung kommen muß, wie des Herren Tag, und wie der Feldwaibel ohne Noth gekommen ist, als ein Dieb in der Nacht" (Hebel, Briefe 87). Ende Dezember 1802 benutzt Hebel die Wendung erneut. Dieses Mal in einem Schreiben an seinen engsten Freund Friedrich Wilhelm Hitzig, welcher nicht nur 1790 den Proteuserorden mit Hebel gründet, sondern 1802 auch die Theologische Gesellschaft in Lörrach ins Leben ruft. Eine Vereinigung, die sich aus den protestantischen Pfarrern des Wiesentals zusammensetzt. 1804 schreibt Hebel Hitzig ein zweites Mal vom ,,Dieb in der Nacht", doch findet er dieses Mal nicht als rhetorisches Mittel Eingang in die Korrespondenz, sondern als Titel eines Vortrages, den Hebel eben vor jener Theologischen Gesellschaft zu halten gedenkt, (und dies im selben Jahr auch noch tut). ,,Ich werde nächstens der theol. Gesellschaft, wenn sie es gütig annehmen will wieder einige Gedanken, und zwar über den Dieb in der Nacht mittheilen" (216). Die Mitteilung teilt sich im Wesentlichen in zwei Fragestellungen auf, nämlich zum einen nach dem biblischen Gebrauch und Verständnis des Komparans ,,Tag des Herrn", und zum anderen nach der Übersetzung des Komparandum ,,Dieb" aus dem Griechischen. In der Folge wird Johann Peter Hebel in dieser doppelten Hinsicht selbst zum Dieb, stiehlt er doch einerseits dem neutestamentlichen Verständnis der Endzeit zumindest den alttestamentlichen Unterbau, und andererseits der Lutherbibel den Dieb selbst.

[G]egen die gewöhnliche Weise, nach welcher man sonst den Dieb nicht sieht, wenn er schon da ist, sieht man hier einen Dieb obgleich keiner da ist; denn die exegetischen Augen sehn anderst als die gemeinen, bald wie die Augen der Kakerlaken, gar wunderhelle, wo alles am dunkelsten ist, bald wie die Augen der Hexe zu Endor, Etwas, wo Nichts ist

(Hebel, Werke, Bd. 4, 318). [End Page 62]

Es geht Hebel dabei im Wesentlichen um das Verständnis des hebräischen inline graphic (ganáv, oder Gannabh in Hebels Transliteration). Er stellt heraus, dass der Gannabh und sein deutsches Gegenstück zwar eine überlappende Wortbedeutung haben, allerdings habe das hebräische Wort einen ,,weitern Umfang als das verächtliche deutsche Wort ,Dieb' und bezeichnet auch den Krieger im unerwarteten Ueberfall, oder den Sieger im Sturm, mit der Nebenidee, daß er Beute mache, was in den Augen der Vorwelt nicht so entehrend war" (323). Der Vortrag fährt mit einer Reihe zusätzlicher Exempel fort, die Hebels These, es handele sich bei dem Dieb eben keineswegs um einen Dieb, sondern um einen siegreichen Eroberer (dem Feldwebel von Karlsruhe, beziehungsweise Napoleon selbst, vielleicht nicht völlig unverwandt), unterstützen. Primärer Zeuge ist aber das Buch Joel, in dem der Prophet im zweiten Kapitel den Heuschreckenschwarm, welcher Gottes Gericht hält, nicht bloß über eine Stadt herfallen lässt, sondern diesen auch rhetorisch vergleich-oder verwechselbar macht mit einer Heerschaar.

inline graphic sagt Joel. Wie übel gegriffen, wie matt und unedel auch hier, wenn man um dem meisterhaft aufgeführten Dichtergebilde, seinen Schlußstein zu geben das letzte Hemistich so ergänzen wollte /––,,wie Diebe, die stehlen!" / Wie richtig gehalten hingegen und treffend, wie vollendet bis zum letzten fehlenden Pinselstrich, wenn wir überlegen, und schließen: /––,,wie plündernde Sieger"

(324–325).

Aber auch für das Griechische κλέπτης (kléptes) in Paulus' Beschreibung des Tags des Herrn, findet Hebel ausreichend Beleg, dass ebenso im Neuen Testament der Dieb in der Nacht kein Verbrecher oder gar Sünder sei, sondern ein siegreicher Feldherr ,,,angethan mit dem Krebs des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung zur Seligkeit!'" (326, vgl. 1. Thess. 5,8). Im mitveröffentlichten Anhang der Druckversion des Vortrags führt Hebel schließlich, als Untermauerung seiner Übersetzungs-These und Verteidigung gegen einen Zweifler aus dem Kreise der Theologischen Gesellschaft, unter anderem noch Xenophon als Zeugen an, welcher in seinen Memorabilien (Erinnerungen an Sokrates) ausdrücklich von einem guten Feldherrn fordert, dass er unter anderem ein guter ,,Dieb" sein müsse.8 ,,Und dann will der Schriftsteller damit nicht einmal sagen, daß er plündern müsse, sondern die Kunst verstehe, unbemerkt heranzurücken, dem Feind in der Besetzung wichtiger Posten durch Geschwindigkeit zuvor zu kommen" (327; meine Hervorhebung).

Ungeachtet der Frage, ob Hebels keineswegs abschätzige Übersetzung beziehungsweise Lesart des biblisch-hebräisch-griechischen ,,Diebs" im philologischen Kontext haltbar ist, entdeckt sich in der letzten und den vorangegangen Quellen aus Ueber den Ausdruck der heiligen Schrift: Dieb in der Nacht ein neuer Wort- und Gedankenzusammenhang aus dem heraus Hebel auch Über die Verbreitung der Pflanzen verfasst. Wie Xenophons (beziehungsweise Sokrates') [End Page 63] guter Feldherr bei der Besetzung wichtiger Posten dem Feind unbemerkt zuvorkommt, so besetzen auch die Pflanzen jede Handvoll fruchtbarer Erde, bevor das menschliche Auge es bemerkt hat, und schließlich kommt auch der Tag des Herrn wie ein Dieb oder siegreicher Eroberer in der Nacht. Die sich hier öffnende Parallele zwischen Xenophons ,,Feind" und der menschlichen Wahrnehmung bei Hebel will im Folgenden noch genauer untersucht sein, denn tatsächlich präsentiert sich eine bestimmte nachlässige Form der menschlichen Aufmerksamkeit, gemessen an der potentiellen Wahrnehmbarkeit der Welt, als Gegenspieler zur Verwirklichung des menschlichen Erkenntnispotentials und damit seiner ihm zugedachten Rolle in der Schöpfung. Doch zuvor muss das Augenmerk noch einmal auf die eingangs zurückgestellte Frage nach der Bedeutung des ,,Tags des Herrn" gelegt werden. Die Re-kontextualisierung der pflanzlichen Ausbreitung durch Bibel und Memorabilien erlaubt, neben der Wendung vom ,,Dieb in der Nacht", auch das beschriebene Wuchern–d.h. die Besetzung fruchtbarer Erde–als adäquat treffendes Komparandum in Betracht zu ziehen. Parallel zeichnet sich damit eine Verwechselbarkeit von Komparans und Komparandum, beziehungsweise die Flüchtigkeit des tertium comparationis ab, und zwar bereits im Hier des Präsens und nicht erst am Horizont oder Zielpunkt einer umfassenden Vernichtung am Jüngsten Tag.

Der ,,Tag des Herrn", so stellt Hebel fest, ist als ,,Idee und Name [ . . . ] alt. Mehrere Propheten nennen schon den Tag des Herrn (Jom Jehovah) oder scheinen ihn zu schildern. Jesaiä 13,9. Joel Kap. 2. und 3. Amos 5. 18–20. Zephan. 1,14.–17" (Hebel, Werke, Bd. 4, 318–319). Doch während sich mit der Benennung eine gewisse Rhetorik verbindet, die sowohl im Alten als auch Neuen Testament Bestand hat, ist der durch diese und in dieser Rhetorik beschriebene Begriff für jeden der aufgeführten biblischen Autoren durchaus ein anderer. ,,[S]ie haben nicht einen und denselben Gegenstand im Auge, am wenigsten einen Zeitpunkt in den Fernen des N. Test. oder am Ende der Welt. Jeder bezeichnet damit etwas anders und nahes." (318–319). Thomas Schestag schreibt, dass Hebel ,,jene[s] Kommen" mit seinem ,,Vortrag behutsam aus der Klammer der geläufigen Auffassung vom Jüngsten Tag und der Offenbarung löst, um in ihm ,etwas anderes' als das Ende der Welt und die Zerstörung Jerusalems, im Sinn der ,prophetischen Bilderzüge' der Johanneischen Apokalypse, ,etwas anders und nahes', im Zeichen, zu zeichnen" (Schestag 253). Jene Behutsamkeit, welche Schestag Hebel attestiert, zeichnet ein weiches Bild des Gegenstands, dessen Vervielfältigung aus dem Blickwinkel kirchlicher Dogmatik nichts weniger als eine unvereinbare Ungeheuerlichkeit bedeutet. Wenn Gott nämlich konkret und singulär als allumfassend gedacht werden muss–das heißt gleichsam als Klammer um die Schöpfung als Einziges und Ganzes, als A und Ω–dann stellt die Teilbarkeit des Omega–des Endes–in seiner Mitteilung (und als Bedingung seiner Mitteilbarkeit) eine wildwuchernde Fortsetzung dar, die zwar behutsam, aber [End Page 64] doch ein-beziehungsweise mehr-deutig mit der Gültigkeit des Mitgeteilten konkurriert, also mitläuft und mit dem Mitgeteilten kollidiert. Das Ende verliert seine Endgültigkeit. Ein ähnlich innovatives und unorthodoxes Spiel mit der Endgültigkeit der Schöpfung spielt Hebel auch in den Fortgesetzten Betrachtungen über das Weltgebäude im Kalender auf das Jahr 1809. Dort erklärt er dem Leser unter anderem, warum die zeitgenössischen Astronomen oder Sterngucker die These vertreten, zwischen Mars und Jupiter fehle in unserem Sonnensystem ein Planet, ,,ob ihn gleich noch kein sterblicher Mensch gesehen habe. Entweder, sagten sie, ist er so klein, daß wir ihn nicht sehen können, oder er hat seinen jüngsten Tag und die Auferstehung seiner Todten schon erlebt, und ist nachher im Feuer aufgegangen, oder sonst verkommen" (Hebel, Bd. 3, 541; meine Hervorhebung). Wieder wird aus der zukünftigen, einmaligen Endgültigkeit des Omegas, des Jüngsten Tages, des Tags des Herrn, der Apokalypse–wenn auch mit humoristischer Intention–eine gegenwärtige, vielfältige Mehr-oder Gleichgültigkeit.

Damit verliert das Ende nicht bloß sein exaktes futurum ultimum, sondern auch die zeitliche und räumliche Distanz. Der Tag des Herrn als ein ,,Kommen" ist vielleicht schon da und war vielleicht schon unzählige Male da. Und tatsächlich ist die Zeitlichkeit–eben jenes ,,schon da" pflanzlicher Aus- und Verbreitung–nicht bloß proleptisch als Ankündigung eines wie auch immer gearteten Endes, sondern im Falle der Erde ebenso analeptisch lesbar, als Rückbezug auf einen Anfang, der den Anfängen der Natur sogar noch vorausgeht. Jene ,,handvoll fruchtbare Erde", die nicht bloß wie oben beschrieben im Tempus der Vegetation unbemerkt vorweggeht, sondern eben auch den (verlassenen) Bauwerken der Menschen nachfolgt, soll heißen, in deren Ruinen und Brachen zurückbleibt: den ,,öden Feldern, verlassenen Wegen, [ . . . ]9, Mauern und Dächern" (Hebel, Bd. 2, 7). Zwischen Natur und Kultur behauptet sich die fruchtbare Erde als Drittes anonymen Ursprunges und fordert den Leser gerade im konkreten Bezug zur Bibel auf, neben dem Tag des Herrn auch die Schöpfungsgeschichte in einem Satz zu Tage zu fördern.

VND Gott sprach / Es samle sich das Wasser vnter dem Himel / an sondere Örter / das man das Trocken sehe / Vnd es geschach also. Vnd Gott nennet das trocken / Erde / vnd die samlung der Wasser nennet er / Meer. Vnd Gott sahe das es gut war. VND Gott sprach / Es lasse die Erde auffgehen Gras vnd Kraut / das sich besame / vnd fruchtbare Bewme / da ein jglicher nach seiner art Frucht trage / vnd habe seinen eigen Samen bey jm selbs / auff Erden / Vnd es geschach also. Vnd die Erde lies auffgehen / Gras vnd Kraut / das sich besamet / ein jglichs nach seiner art / vnd Bewme die da Frucht trugen / vnd jren eigen Samen bey sich selbs hatten / ein jglicher nach seiner art. Vnd Gott sahe das es gut war

(Gen. 1,9–12; meine Hervorhebung).

In der Lutherbibel–wie bei Hebel–ist die Erde also von der Natur, hier verstanden als Gesamtheit irdischen Lebens, unterschieden, insofern sie [End Page 65] zum einen zeitlich vorgelagert erschaffen wurde durch einen doppelt kritischen Akt der Unterscheidung (das heißt die Aufteilung von Himmel und Erde, sowie von Meer und Land); zum anderen schreibt sich in der Erde die Schöpfungsmacht Gottes, nicht autonom, aber doch supplementär, fort, wenn die Erde zum Medium göttlicher Kreation wird. Gott befiehlt, aber die Erde schafft, sie lässt aufgehen, und zwar zunächst Gras und Kräuter. So auch in Hebels Bericht Über die Verbreitung der Pflanzen. Die Natur sät sich an und besetzt mit ,,Gras, Kräutern, Stauden und Buschwerk" (Hebel, Bd. 2, 7). Die letzten beiden Posten überspringt die Bibel zwar, dennoch ist die Parallele in der Sequenz der Worte sicher kein Zufall, zumal sich Hebel in der Folge eben auch jenen ,,Bewme[n] die da Frucht trugen" zuwendet mit besonderem Augenmerk auf ,,jren eigen Samen", der sich bei jeder Gattung ,,nach seiner art" verbreitet, und zum Medium und Gegenstand der Schöpfung selbst erhebt (vgl. Gen. 1,12). Und so stehen im Spannungsfeld der biblischen Texte, das heißt durch die Annäherung an die schöpfungsgeschichtliche Sequenz und ,,apokalyptische" Zeitlichkeit, in dieser ersten ,,einfachen" Beobachtung Hebels Anfang und Ende querfeldein und gleichgültig nebeneinander, und dies nicht als Singularitäten, sondern als synchron anhaltende Iterationen und Re-Iterationen. Die Schöpfungsgeschichte und der ,,Tag des Herrn" teilen sich immer wieder mit–nicht in der Ferne und am Rand der Zeit, sondern in mittel- und mitteil-barer Gegenwart des Menschen. Dieser sieht es, achtet es aber nicht.

Immerhin kann Hebels Hausfreund selbst noch die Unzählbarkeit der pflanzlichen Vermehrung und Besetzung in ihrer Geschwindigkeit, Vielfältigkeit und vertrauten Nähe irgendwie wahrnehmen. Oder wenigstens nimmt er wahr, warum man–also auch der Hausfreund selbst–es gelegentlich (oder öfter) nicht wahrnehmen mag: Es ist die Gewohnheit, die Annahme, schon gesehen und verstanden zu haben. Die menschliche Wahrnehmung–unter der Ägide des Habitus–entdeckt sich als Antagonist des Wahrnehmbaren. Der Erkenntnisprozess bleibt unangestoßen in Anbetracht der größten Weisheit, die sich in solch gewohntermaßen außergewöhnlichen Quantität und Temporalität dem Auge entgegenstellt, welchem doch schon ,,der Anblick einer Mauer, eines Ziegeldaches, eines Weidenstockes" ein ,,Vergnügen" sein kann, wenn auch ein Vergnügen bloß darin–,,[p]ositiv in nichts"–, die lästige ,,Leere des Gefühls" nicht aufkommen zu lassen (Hebel, Werke, Bd. 8, 84).

Das [i.e. die Geschwindigkeit und Resolutheit pflanzlicher Besetzung] sieht man oft und achtets nicht, eben weil man es von Kindheit an so oft sieht; die größte Weisheit verrathet sich in der einfachen und natürlichen Einrichtung der Dinge, und man erkennt sie nicht, eben weil alles so einfach und natürlich ist

Das Widersinnige an dieser kindlichen Gewohnheit entblößt Hebel nicht zuletzt durch seine Wortwahl, die in scharfem Kontrast zur zuvor gegebenen Nachricht von der Fertilität und Verbreitung der irdischen Flora [End Page 66] steht. Wie kann das, was in und durch seine ,,Menge und Mannigfaltigkeit" sowie Geschwindigkeit, die menschliche Auffassungsgabe übersteigt, zugleich als ,,größte Weisheit" wie auch als ,,einfach und natürlich" gelten?

Das zweite Adjektiv–,,natürlich"–verweist auf eine mögliche Auflösung des Widerspruchs: Die beiden Urteile über die Aussaat und Fortpflanzung werden in Bezug auf unterschiedliche Wertesysteme gefällt. Letzteres stellt per Junktion die Einfachheit des Sachverhalts neben seine Natürlichkeit. Die ,,Einrichtung der Dinge", wie sich das Partikuläre in einer Gesamtheit gesetzmäßig zueinander verhält, kann insofern als einfach bezeichnet werden, als sie Hebel hier als primär Gegebenes gilt gemäß der lateinischen Wurzel des Wortes, welche in ihrem älteren Gebrauch nicht für Geburt (von nasci–geboren werden, entstehen), sondern ,,in der Bedeutung von angeborner Anlage und Begabung" verwendet wurde, woraus sich dann die Bedeutung ,,,stets fortwirkende Thätigkeit des Erzeugens und Hervorbringens' erst entwickelt hat" (Grimm, ,,Natur" 430). Die menschlichen Kategorien hingegen, mit welchen wir eben jene Urteile fällen, die dem Wahrgenommenen eine (menschliche) Bedeutung–soll heißen Deutbarkeit–beimessen und so den geschaffenen Gegenstand als gegebenen kommunizierbar machen, gehören der Ordnung einfacher Natürlichkeit beziehungsweise natürlicher Einfachheit nicht an. Sie sind höchstens die ,natürlichen' Früchte menschlicher Kultivierungsarbeit, die sich nicht bloß auf den Ackerbau beschränkt, sondern die Gesamtheit aller bedeutungstragenden Systeme, Praktiken und Artefakte (Werke) umschließt. All das, was der Mensch ,erbauet', soll sein ,Eigen' sein–Luthers Kommentar lässt sich hier über die Feldarbeit hinaus erweitern. Die ,kultivierte' Sphäre gehört dem Menschen, aber dieses Eigentum demarkiert auch den Bereich dessen, was dem Menschen intelligibel und mitteilbar ist. Jenes aber, was ihm nicht eigentümlich ist, gehört einer anderen, mitunter vorgelagerten Ordnung an, deren ,,größte Weisheit" sich gerade darin ,,verrathet", dass der Mensch sie nicht erkennt.

Wie kann Hebel im Folgenden über die unerkennbaren Eigenschaften der natürlichen Fertilität unterrichten, ohne die von ihm selbst gesetzte Prämisse zu verletzen? Stillschweigend erkennt der Autor an, dass es keinen direkten Zugang zur primären Natur geben kann. Stattdessen versucht er, gleichsam als immer zu kurz greifende Annäherung, die Grenzen dessen, was in der sekundären Kultur erfahr- und verhandelbar ist, zu erweitern. Die Methode, mit der er diese Erweiterung bewerkstelligen will, findet er in der Zergliederung des täuschenden Gesamteindrucks, an welchen der Leser von Kindestagen an gewohnt ist. Den Ausgangspunkt jener Zergliederung stellt das tradierte und daher ebenso natürlich-einfach scheinende Wissen der kultivierenden Landbevölkerung, mit welchem sich Hebel gemein macht und so einen gemeinsamen Nenner schafft für die anstehenden Mit-Teilungen: ,,Die meisten Pflanzen haben eine wunderbare Vermehrungskraft, wie jeder aufmerksame Landwirth wohl weiß." Man könne durchaus ,,[t]ausend Saamenkerne [End Page 67] von einer einzigen Pflanze, so lange sie lebt" (Hebel, Bd. 2, 8), in den heimischen Breitengraden zählen. Dieser Multiplikation (1 × 1000) läge zwar eine Division mit ungewohnt großem Nenner inline graphic dass der Hausfreund aber keineswegs übertreibt oder gar die Unwahrheit sagt, bezeugt ihm die freilich fremde, aber umso fruchtbarere Tabakspflanze, an welcher man schon ,,40,000 Körnlein gezählt [habe], die sie in einem Jahr zur Reife brachte" (Hebel, Bd. 2, 8). Für die Rechnung, die Hebel dem geneigten Leser in der Folge aufmacht, eignet sich ein Bruch mit unbekanntem Nenner und unvertraut großem Teiler inline graphic nicht, um dem Leser mit dem unvertrauten (Aus-)Maß natürlicher Fruchtbarkeit bekannter zu machen. Darum legt der Hausfreund als neues Eichmaß das Eichenmaß an: ,,Man schätzt einer [sic!] Eiche, daß sie 500 Jahre leben könne" (8). Der Baum eignet sich nicht nur begrifflich als Homograph/Homonym zum Abstraktum des Verbs ,,eichen"–das ist ,,die Eiche" als Vorgang des Maßnehmens beziehungsweise Normens (Adelung, ,,Eiche (2), die", 1661–1662)–, sondern auch in seiner kultur-historischen Bedeutung und wegen seiner botanischen Eigenschaften als der ideale Referenzpunkt. Die Eiche ist sowohl ein sehr langlebiger, wie Hebels niedrig angesetzte Schätzung bereits anzeigt, als auch ein auf mancherlei Weise lebenserhaltender Baum. Ihre Früchte dienen nicht bloß Wild und Hausschwein als Nahrung, sondern auch dem Menschen in Zeiten des Mangels. Und selbst wenn eine Eiche im übertragenen Sinn ihr Leben aushaucht, endet ihr Dienst an den ihr unverwandten Lebensformen nicht. Ergiebigkeit und Nutzen ihrer Überreste für den Menschen sind sprichwörtlich geworden: ,,Ist die Eiche zerbrochen, sammelt jeder von ihren Knochen" (Wander 764). Innerhalb des Sprichwortes nimmt der Baum gar menschliche Qualitäten an. Wenn sein gesplittertes Holz in der Übertragung Gebeinen verwechselbar wird, entstellt die Sprache die leblose Eiche zur Leiche. Dieses Sprichwort–als ein (fast) beliebiges Beispiel für viele seiner Art10–markiert zugleich den Übergang der botanischen Eigenschaften des Baumes in das weiterreichende Bedeutungsfeld ,,Eiche" im kollektiven Gedächtnis der (deutschsprachigen) (Land-)Bevölkerung. Es scheint eben jene Qualität der Eiche zu sein–das heißt die Art und Weise, in der dieser Baum implizites und explizites Wissen kollektivwirksam in mannigfaltigen Sprichwörtern, regionalen und lokalen Legenden und Anekdoten, sowie in sogenannten Bauernweisheiten oder-regeln zu verkörpern und zu transportieren scheint–, die Hebel mit ins Feld zu führen sucht.11 Dem Leser des Landkalenders um 1800, so darf man nicht bloß vermuten, ist und bleibt die Eiche ihrer weiten Verbreitung und daher alltäglichen Erscheinung wegen zunächst unverdächtig vertraut. In gewisser Weise ist die Eiche damit, als pars pro toto jenes Umstandes, den sie Hebel illustrieren helfen soll, von derselben [End Page 68] Wahrnehmungslücke gekennzeichnet, wie die Fruchtbarkeit der Natur allenthalben. Trotzdem: der Eichenbaum der Landbevölkerung muss in diesem Zusammenhang als der vertraute Nenner herhalten, um der Mitteilbarkeit der unfassbaren Teilbarkeit der Natur zuliebe.

Das Potential der Eiche, Mittel der Mitteilung zu werden, deutet sich hingegen in der impliziten Verbindung zwischen dem Namen des Eichbaumes (lat. quercus) und dem etymologischen Ursprung an, sowie gegenwärtigen Bedeutung seines bereits erwähnten Homographs, das heißt, in der Assoziation von Baum und Messvorgang im Gleichklang ihrer wechselseitigen Bezeichnung.12 Die Eiche als Vorgang, bei dem zum Beispiel ein Gefäß auf das richtige Maß hin geprüft wird, ist als Wort der deutschen Sprache verhältnismäßig jung, verglichen mit der Eiche als Bezeichnung für den Baum. Als Fachbegriff der Weinkultur entlehnt sich der Begriff, über das mittelhochdeutsche ,,īchen" aus dem Lateinischen. Es leitet sich laut Pfeifer von ,,aequus" (= eben, gleich) ab, aus welchem sich in der Zusammensetzung ,,exaequāre" das altfranzösische ,,essever" (= ausgleichen, eichen) entwickelt (Pfeifer und Braun 264). Tatsächlich geht es Hebel hier, bei der Verwendung des Eichbaumes als Buchhalter der Fruchtbarkeit, welcher sich im Gleichklang mit dem Vorgang des Ausgleichens verwandt macht, um die Möglichkeit des VerglEichens. Im Sinne des menschlichen Geistes und Begreifens, gleicht Hebel die Fruchtbarkeit der Natur dem Eichbaum an, welcher als Gleichnis wiederum homographisch verspricht, dass in ihm ein allgemeingültiges, ebenes, gleichbleibendes Maß gefunden werden kann, auf welches die Menschen sich verständigen könnten. Eine Verständigung als Anschein oder Setzung einer Mitteilbarkeit, die Nietzsche später furchtlos als etymologische Wurzel des Wortes ,,Mensch" selbst zu setzen versucht: ,,(das Wort ,,Mensch" bedeutet ja den Messenden, er hat sich nach seiner grössten Entdeckung benennen wollen)" (Nietzsche 209). Was aber Nietzsche im An- und Gleichklang zur philologisch zwar entwurzelten aber doch genealogisch radikalen Etymologie wird, ist sowohl im Verfahren als auch im Gegenstand Hebels Behandlung der Frage nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur (beziehungsweise Schöpfung, beziehungsweise deren Anfang und Ende, beziehungsweise Gott), sowie den Werkzeugen oder Organen mit welchen der Mensch anfangen könne, dieses Verhältnis auszuloten, nicht unverwandt, auch wenn die Intentionen beider Autoren nicht auf einen Nenner zu bringen sind. Da, wo Nietzsche eine Genealogie der Moral anreißt, um zu zeigen, sie sei nur im Menschen selbst begründet und daher willkürliche und subjektive Determinante seines Handelns, fragt Hebel, ob aus dem, was dem Menschen wahrnehmbar sei, sich eine (selbst)verständliche Notwendigkeit für eine lebensnahe und lobenswerte Haltung zur Welt ergeben kann oder können soll. Hebel ahnt allerdings, wie Nietzsche nach ihm, dass ein Sich-Messen mit dem, was notwendigerweise das Wahrnehmbare selbst im Kleinsten übersteigt, den Menschen (oder wenigstens den Leser) ,,in Bereiche hinauf[steigen]" [End Page 69] lässt, ,,die ganz unwägbar sind", auch oder gerade, weil sie es ,,ursprünglich nicht zu sein scheinen" (209). Beide wissen um die Anmaßung, die in der Benennung liegen mag oder auch nur in der Annahme eines angemessenen Maßes. Dennoch: auch bei Hebel wird der Mensch (oder zumindest der Kalendermacher) zum Messenden.13 Denn letztlich bedarf die Mitteilbarkeit der ,,größten Weisheit" einer gleichmachenden Setzung, obschon sie doch a priori unvereinbar dem (adjektivischen) Superlativ–der Steigerungsform, welche sich nicht vergleichbar machen oder gleichgültig nebenordnen lässt–des zu Beschreibenden entgegensteht.

Über die Wichtigkeit einer solchen Vergleichbarkeit des Maßes wird Hebel neun Jahre später im Rheinländischen Hausfreund für das Jahr 1812 seinen Adjunkten erneut referieren lassen. In Des Adjunkts Standrede über das neue Maaß und Gewicht spricht der Freund des Kalendermachers im Schankraum des ,,Rößlein zu Mühlberg" über die Vorzüge, welche die im Königreich Baden anstehenden metrologischen Reformen mit sich bringen werden. Mögen sie im Einzelfall auch unter Umständen zu nachteiligen Erfahrungen führen–dem Adjunkten ist zum Beispiel das neue Halbmaß Wein zu klein für seinen Durst–, so müsse man sich doch in Bezug auf die Reformen, sowie im Generellen, ,,nach den Umständen richten, und das gut heißen, was allgemein Nutzen bringt": nämlich das ,,neue Gewicht und Maaß" (Hebel, Schriften, Bd. 3, 320).

Während die Rede des Adjunkten vom Schankstuhl aus in erster Linie darauf ausgerichtet ist, den anwesenden Gästen, sowie der Leserschaft des Rheinländischen Hausfreunds mit Beispielen und Rechenaufgaben die metrischen Änderungen zu veranschaulichen, wo nicht schmackhaft zu machen, behält sich der Text vor, über die reine Vermittlung von Informationen hinaus sowohl einen gewissen Schankraumhumor zu bedienen–der Adjunkt denkt zum Beispiel öffentlich darüber nach, zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen, jetzt, da die Mathematikhausaufgaben der noch Ungeborenen dank der Reform versprechen, leichter zu werden–, als auch auf subtile Weise die Grenzen der allgemein gültigen Standardisierung und Vergleichgültigung aufzuzeigen. In der Sprache kann die konventionelle Reduktion des Spezifi-schen unter einen gleichmachenden Begriff nicht verhindern, dass sich die Lesarten desselben vervielfältigen. Ausgerechnet wenn der Adjunkt meint, er habe fertig-oder aus-gerechnet und könne sich nun zur ,,Comödie" nach Karlsruhe begeben, beweist der Text seinen größten Witz: ,,Noch eins: es wird im ganzen Lande auch nur Eine Manier seyn, die Frucht- und Weinmaaße zu eichen, zu sinnen, zu fechten. Bisher machte es der eine so, der andere anders, und das verursachte viel Unterschied und Gunst" (326).

Dies dezidierte Abschiedswort weist sich selber als solches in seiner Exposition vor dem Kolon aus: ,,Noch eins" (326; meine Hervorhebung). Doch aus der angekündigten finalen Singularität seiner Konklusion erwachsen im Schankraum gleich eine ganze Reihe von Folgefragen, die der Adjunkt [End Page 70] zuletzt noch um ein Rätsel zu ergänzen weiß, welches auch die Frage aufwirft, ob man in Karlsruhe das Theaterstück ohne den Helfer des Hausfreundes wird beginnen lassen müssen. Dem ,,noch eins" folgt eben immer noch ein weiteres, so wie dem vom Adjunkten bevorzugten halben Maß noch ,,ein Schluck" vom ,,Viertelsmeßlein Ellmendinger" des Hausfreundes folgen muss, damit der ,,von der Rede trocken" gewordene Mund nicht den Sprachfluss zum Versiegen bringt (323).

Ebenso folgt auch auf das erste Zahlwort ein zweites, das dennoch wieder nur ,,1" sagt: Es verkündet mit emphatischer Großschreibung, dass es in Zukunft nur ,,Eine Manier", soll heißen, eine Art und Weise geben werde, in der das Maß für Früchte und für Wein festgelegt wird. Doch während der Vorgang standardisiert zu werden verspricht, wird besonders in diesem Kontext augenfällig, dass es offensichtlich nicht nur ein Wort für diesen neuen Standard geben wird: Was den Einen das Eichen wäre, würde den Nächsten das Sinnen und den Dritten gar das Fechten sein. Doch auch jenseits dieser vielleicht als rhetorische Betonung gemeinten accumulatio weigert sich jedes einzelne Verb, das vom Adjunkten zur Maßarbeit bestellt wurde, die Einsinnigkeit der Arbeit, die es bedeuten soll, zu reflektieren. Jedes der besagten Verben (eichen, sinnen, fechten) stellt selbst wieder ein Homonym vor. Die Vermittlung des einheitlichen Maßes in Sprache hängt daher maßgeblich von dem Kontext ab, in welchem die Verben verwendet werden, da das Schrift-, beziehungsweise Lautbild derselben, zum Teil entgegen der Wortwurzeln, Polyseme mit disparaten Bedeutungen darstellen. So wird die eine Manier des Wiegens und Messens durch den Stil in der Hand des Autors und seiner Handhabe der Sprache selbst vervielfältigt und mehrdeutig.

Der verständige Leser der Ausgabe des Badischen Landkalenders auf das Jahr 1803 weiß noch nicht, dass er auf dem Weg in Hebels Eichenwald, durch dieselbe und verwandte Manipulationen der Sprache mehrfach die Handhabe über das, was er zu verstehen meint, wieder verliert und sowohl es als auch sich dem Reich des Fremden und Unbekannten aushändigen muss.

Man schätzt einer [sic!] Eiche, daß sie 500 Jahre leben könne. Aber wenn wir uns nun vorstellen, daß sie in dieser langen Zeit nur 50mal Früchte trage, und jedesmal in ihren weit verbreiteten Ästen und Zweigen nur 500 Eicheln, so liefert sie doch 25000 wovon jede die Anlage hat, wieder ein solcher Baum zu werden. Gesetzt, daß dieses geschehe, und es geschehe bei jeder von diesen wieder, so hätte sich die einzige Eiche in der zweiten Abstammung schon zu einem Walde von 625 Millionen Bäumen vermehrt

Das An- und Ausgleichen durchs Eichmaß des Eichenmaßes erfolgt in Form einer Textaufgabe. Ausgehend davon, dass es dem Hausfreud darum geht, die quantitativen und dynamischen Eigenschaften einer Teilung mitzuteilen und nicht schlicht von der Eiche zu berichten, bleibt auch in dieser Aufstellung die eigentliche Aufgabe, den Nenner nicht bloß zu benennen, sondern [End Page 71] auch zählbar, beziehungsweise erzählbar zu machen inline graphic . Darum geht Hebels erster Schritt dahin, ein Eichenleben, welches mit 500 veranschlagten Jahren den menschlichen Erfahrungshorizont schon übersteigt, künstlich auf 50 Fruchtzyklen zu reduzieren. Das Eichenleben bleibt so bekannter Teil der Gleichung, der Nenner durch den Zähler weiter mitteilbar–auch dann noch, wenn Hebel die 50 Fruchtzyklen mit je 500 Eicheln multipliziert. Ein gezähltes Eichenleben teilt sich in dieser Darstellung also in 25.000 Eicheln mit, welches wiederum das isolierte Fruchtbarkeitspotential benennt: inline graphic . Nun errechnet sich die Fruchtbarkeit nicht allein durch die Multiplikation der Eicheln, sondern in der Vervielfältigung des Vervielfältigungspotentials. Dieses Potential steigert sich allerdings mit jedem Zyklus seiner Realisierung exponentiell; und da der Kalendermacher seine einzige Eiche eben genau darum ,,gesetzt" hat, ,,daß dieses geschehe und bei jeder von diesen [den Eicheln der zweiten Generation] wieder" (Hebel, Bd. 2, 8), so teilt sich Hebels Eichensetzling–eingeführt als Setzung eines gleichen und vergleichbaren Maßes–in der zweiten Abstammung in einen beachtlichen Wald von 625 Millionen Bäumen inline graphic .

In der Realisierung des Fortpflanzungs- und Verbreitungspotentials des Hebelschen Eichenmaßsetzlings teilt sich das singulär Bekannte auf in eine Vielfalt des Bekannten. Jedoch selbst das künstlich reduzierte Fortpflanzungspotential der einzigen Eiche lässt das Verhältnis vom singulären, zählbaren und erzählbaren Zähler zu seinem sich exponentiell vervielfältigenden, dynamischen Nenner in seiner Realisierung den Grenzwert des menschlichen Wahrnehmungshorizonts überschreiten. Der Nenner–625 Millionen–ist wahrlich nur noch eine quantitative Benennung, die auf keinen menschlichen Erfahrungswert mehr verweisen kann. Ohne es zu bemerken, hat der geneigte Kalenderleser in dem von Hebel aus Gleichnissen und Eichnüssen aufgeforsteten Wald bereits die Orientierung verloren, wenn ihm festgestellt wird, dass er vor lauter Wald die Bäume nicht mehr sehen kann. Der Multiplikation des Teilers folgt der Verlust der erfahrbaren Mit-Teilbarkeit des sich Vervielfältigenden, während die natürliche (und daher einfache) mathematische Teilbarkeit intakt bleibt. Den Unterschied zwischen diesen zwei Arten der Division macht Hebel sofort deutlich und reißt seine Leserschaft damit endgültig aus der Vertrautheit des Exempels, welches er zuvor selbst eingeführt hat.

Wie viel aber eine Million oder 1000 mal 1000 sey, glaubt man zu wissen, und doch erkennt es nicht jeder. Denn wenn ihr ein ganzes Jahr lang vom 1. Jenner bis zum 31. Dec. alle Tage 1000 Striche an eine große Wand schreibet, so habt [End Page 72] ihr am Ende des Jahrs noch keine Million, sondern erst 365000 Striche, und das zweite Jahr noch keine Million, sondern erst 730,000 Striche, und erst am 26. December14 des dritten Jahrs würdet ihr zu Ende kommen

Parallel dazu, wie Hebel den Be-Nenner der Vielfältigkeit und Dynamik natürlicher Fortpflanzung in kommensurable Fragmente dividiert, trennt er von neuem eine vertraute Quantität auf und übersetzt sie in eine er-zählbare Szene aus dem hypothetischen Leben des impliziten Lesers. Die Worte ,,eine Million", sowie die Formel ,,1000 mal 1000" gehen diesem leicht von den Lippen, und doch verstellt die Leichtigkeit dem Leser den Blick auf die Schreibarbeit und Lebenszeit, die es ihn kostete, wollte er jede Einzelheit des Produktes in gleichbleibender Maßeinheit aufzeichnen. Hebel untergräbt die scheinbar insuffizienten mathematischen Begriffe, indem er geschickt eine etwas absurde und nicht zuletzt deshalb unterhaltsame Schreib- und Zähl-Szene in den projizierten Lebensalltag seines Lesers einschmuggelt. Die witzige Inszenierung von Quantitäten entdeckt aber in jedem einzelnen neuen Be-Nenner der natürlichen Fruchtbarkeit ein durchaus Fatales verheißendes Menetekel (vgl. Dan 5,1–30). Das Gezählte manifestiert sich als das sprichwörtliche ,,writing on the wall"–allerdings von Menschenhand: Wenn Hebel den impliziten Leser zählen lässt, und dabei in dessen Lebenszeit aufwiegt, was der Kalendermacher vorsätzlich–beziehungsweise die Schöpfung natürlich und einfach–geteilt hat, dann macht er ihm zum zweiten Weihnachtsfeiertag des dritten Jahres das Geschenk, erfahren zu haben, wie viele Ein-Heiten hinter dem vereinfachenden Namen ,,eine Millionen" stehen. Zugleich hat der Hausfreund es geschafft, die ,,1000 mal 1000" erzählbar zu machen. Dennoch, was am Ende des Erzählexperiments an die Wand geschrieben steht, ist nicht Beweis dafür, dass der Leser dem Schicksal eines Königs Belsazar entkommen kann. Natürlich müsste der Leser in diesem Zusammenhang konsequent die Aufgabe Davids–des Übersetzers–übernehmen, die bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich vom Hausfreund ausgeführt worden war, um zu erkennen, dass er nicht bloß in Lebenszeit gewogen, sondern auch als zu leicht befunden wurde. ,,[A]lle Tage 1000 Striche an eine große Wand" zu schreiben, bedeutet nämlich, dass ,,am 26. December [bzw. September] des dritten Jahrs" gerade einmal der 625. Teil der Buchhaltung über den Baumbestand des Hebelschen Waldes besorgt wäre, da ,,unser Eichenwald [ . . . ] 625 solcher Millionen [hätte]" (Hebel, Bd. 2, 8). Das heißt im Umkehrschluss, dass nach fast drei Jahren erzählter Zähl-Zeit noch weitere 1712 Jahre und 120 Tage benötigt würden, um den Eich-Zensus zum Abschluss zu bringen–eine Zeitspanne die sowohl die Lebenserwartung der Menschen als auch die der gewöhnlichen deutschen Eiche übersteigt.

Wenn aber die tatsächliche Erfahrbarkeit der natürlichen Vielfalt und Dynamik der Fortpflanzung ultimativ außerhalb des menschlichen Vermögens liegt, warum schickt Hebel seine Leserschaft zu amerikanischen Tabakspflanzen, in wildwuchernde Eichenwälder und an wandgroße Rechentafeln? [End Page 73] In dem vom Hausfreund errichteten Gedankenparcours durcheilt der gelehrige Leser so etwas wie Hebels didaktisches Programm in nuce. Mittelfristiges Ziel dieses Programms ist es, die Leserschaft, oder Menschen überhaupt, zum Merken und Denken anzuhalten. Das klingt zunächst so schlüssig wie unoriginell ,,und der gelehrige Leser begreifts ein wenig aber doch nicht recht" (Hebel, Bd. 3, 299). Was aber so einfach und natürlich anmutend–i.e. Anleitungen des Pädagogen, welche die Schüler nicht nur vorbereitet, eigenständig Aufgaben und Probleme zu lösen, sondern diese auch ohne Anleitung zu sehen und zu finden–stellt nichts anderes vor, als eine Anleitung zur Sisyphos-Arbeit. Wenn die ,,größte Weisheit" sich in dem verrät, was sich dem Leser nicht unmittelbar erschließt, aber doch in seiner Abwesenheit potentiell betrachtbar wird, dann geht es nicht darum, vorzugeben, der Mensch könne die ihm entgegenstehende Schöpfung mit seinem Verstand durchdringen oder sich ihr auch nur nähern. Vielmehr geht es darum, aufmerksam empfänglich für die Betrachtung dessen zu sein, was sich darin verrät–also entdeckt–, dass es sich auf den ersten Blick enthüllt, auf den zweiten aber sich in seiner Uneindeutigkeit und Uneindeutbarkeit preisgibt, beziehungsweise vorenthält. Die Fähigkeit, das Verstehen zu verstehen, besteht maßgeblich darin, zu merken und in Augenschein zu nehmen, was man nicht versteht oder was sich dem Bemerken zu entziehen sucht. Dieser Kreislauf von Merken und Verstehen, bedeutet zugleich und gleich-gültig eine verstandesgemäße Annäherung an die Schöpfung, sowie eine fundamentale Entfernung von einer direkten Erfahrbarkeit des ihr eingeschriebenen Heilsversprechens. Die dem Menschen zugedachte Rolle erlaubt keine andere Annäherung an die Schöpfung als ,Ganzes' als in der Entfernung von dieser ,Ganzheit' in einer Arbeit ad infinitum, die doch in der Entfernung die vielleicht einzige Hoffnung auf geistige Nähe15 zu etwas Göttlichem erlaubt: Darum bleibt Hebels Anleitung zum Selbermerken seit seinen frühesten Kalenderbeiträgen die stets angebotene implizite und explizite Moral ,von der Geschicht' sowie das Siegel seiner Sprache. Merke: Merke, dass du nicht merkst! [End Page 74]

Benjamin Brand
University of Pittsburgh
University of Pittsburgh
Department of German
1518 Cathedral of Learning
Pittsburgh, PA 15260
USA
benjamin_brand@pitt.edu

Footnotes

1. Allein sechs von Hebels Kalenderbeiträgen tragen das Adjektiv ,,merkwürdig" im Titel, in 19 weiteren Texten erscheint das Wort an zum Teil sehr prominenter Stelle im Textkörper. Hebel benutzt das Adjektiv niemals, um allein etwas Seltsames oder Skurriles des reinen Unterhaltungswertes wegen zu nennen. Vielmehr besteht er mit dem Gebrauch des Wortes darauf, dass die fremde oder befremdliche Anmutung eines Gegen-oder Umstandes nicht ausreicht, um diesen oder jenen über den Effekt der jeweiligen Sensation hinaus als belanglos abzutun. Jene Fremdheiten sind–unabhängig davon, ob man ihre Würdigkeit als Relationsbezeichnung oder eine den Bedeutungen von Würde anverwandte selbstständige Eigenschaftsbezeichnung liest–es wert, be-, ver- und gemerkt zu werden.

2. Neben Hebels bekannter Geschichte Kannitverstan gibt es noch drei weitere Kalenderstücke, die sich bereits im Titel explizit mit dem mangelnden Verstand der Menschen auseinandersetzen, i.e. Mißverstand (bzw. Misverstand) I, II und III. Das Verb ,,verstehen" hingegen wird im Hausfreund öfter in einem kommunikativen als in einem epistemologischen Zusammenhang verwendet. Dessen ungeachtet gibt es mehr Beispiele, in denen das Verb für den Akt des Verstehens entweder mit negativen Vorzeichen oder in einem relativierenden Kontext gebraucht wird, als Beispiele, in denen ,,verstehen" erfolgreiche kommunikative und kognitive Akte beschreibt. Für Hebel, so scheint es, ist das Verstehen in Bezug auf Erkenntnisgewinnung nicht als Akt, sondern als Anlage oder Gestimmtheit wichtiger. Der verständige Mensch, der Mensch also, ,,der die Fähigkeit zu verstehen besitzt" (Grimm u. a., ,,verständig, adj. u. adv." 1572), ist dem Hausfreund der ideale geneigte Leser. Die in der Wortwahl liegende Emphase liegt auf dem Potential und nicht auf der vollzogenen Leistung.

3. Vgl. hierzu Werner Hamachers Einleitung (Prämissen) zu Entferntes Verstehen (Hamacher 7–48). Ausgehend von der Prämisse, dass ,,Verstehen [ . . . ] verstanden sein [will]" (7)–folglich noch nicht verstanden ist, solange es nicht sowohl seinen Gegenstand als auch sich selbst versteht–, zeigt Hamacher Verstehen als Paradox. ,,Es ist [ . . . ] es selbst einzig als das einem anderen ausgesetzte Verstehen und, a limine, anderes als Verstehen" (8). Die Prämisse vom Willen zum Verstehen entdeckt die Unmöglichkeit sowohl der ,,Methodologisierbarkeit des Verstehens" als auch der ,,Möglichkeit des Verstehens überhaupt" (9). Verstehen und Nicht-verstehen bilden kein stabiles Begriffspaar mehr, vielmehr bewegen sie sich ,,in einem Spielraum [ . . . ], der anders als mit Verstandeskategorien und vielleicht anders als verstanden sein will" (10). ,,Entferntes Verstehen"–Hamacher borgt sich das Wort bei Celan–markiert nun den Versuch, sich verständig an ein solches anderes Sein-wollen des Verstehens zu wagen. Ein Sein als Versuch der Entfernung vom anderen, denn in diesem Entfernen besteht die einzige mögliche Nähe zu ihm (48). Hebels ,,Merke" ist jenem Entfernen, welches Celan schützende Gitterstäbe der Poesie sind, nicht unverwandt.

4. Das erste Mal–welches gleich ein doppeltes vorstellt–, dass der Hausfreund dem Leser die Moral mit der Marke des ,,Merke:" macht, steht im Kalenderbeitrag über die Fliegenden Fische im Kalender auf das Jahr 1808. Bis 1819 folgen in wenigstens 37 weiteren Stücken über 50 moralische Markierungen. Manche davon, wie zum Beispiel in der Anleitung Grüne Dinte zu machen, kommunizieren tatsächlich nur Informationen, den Warnhinweisen auf Verpackungen der Gegenwart nicht unähnlich: ,,Du must acht haben, daß dir von dieser Dinte nichts in den Mund kommt oder in die Augen spritzt, denn sie ist scharf" (Hebel, Bd. 2, 238). Andere setzen Paradigmen, Kirchendogmata nicht unähnlich, wie in Gutes Wort, böse That, wo der Hausfreund dem Leser die Bibelexegese zu ,verbieten' sucht: ,,[M]an muß die heilige Schrift nicht auslegen, wenn mans nicht versteht [ . . . ]" (216). Neben Dogma und Warnhinweis am Ende des Textes spricht das Verb ,,merken" auch dann direkt zum Leser, wenn Hebel eine im Text anstehende Wendung, Lehre oder Merkwürdigkeit zu betonen sucht. In solchen Fällen unterstellt der Hausfreund dem Leser gerne, dass er die Wendung schon ahnen würde: ,,Der Leser merkt etwas" (Hebel, Bd. 3, 520).

5. Vgl. hierzu die Impression, die Walter Benjamin in Berliner Kindheit um neunzehnhundert unter dem Titel ,,Zu spät gekommen" festgehalten hat. Bei der Ankunft des jungen Walter auf dem Schulgelände steht die ,,Uhr auf dem Schulhof" nicht nur auf ,,,zu spät'" und verweigert somit eine empirisch-neutrale Anzeige der Zeit, sie löst den säumigen Schuljungen auch aus dem Gefüge der Welt (Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. VII, 395). ,,Niemand schien mich zu kennen, auch nur zu sehen" (396). Erst der zweite, nun gehörte, Glockenschlag, der das Ende des Schultages markiert, erlaubt die Entfremdung von der Welt zur Erinnerung werden zu lassen.

6. Die Sekundärliteratur kommt zu unterschiedlichen Bewertungen dieses Umstandes. Zu der Frage, ob es einen Unterschied macht, und wenn ja, welchen, dass der Handwerksbursche seinen Fehler nicht erkennt. Vgl. hierzu u.a. (Braungart), (Rusterholz) sowie (Fleming).

7. Vgl. hierzu Hebel, ,,Unabgefordertes Gutachten über die vortheilhaftere Einrichtung des Calenders (18. Februar 1806)" (417). Dort beschreibt Hebel, wie das Studium des Angenehmen und Unterhaltsamen als Vehikel der Bildung genutzt werden müsste, um die Popularitä und Effektivität des Badischen Landkalenders–später unter Hebels Ägide umbenannt in Rheinländischer Hausfreund–zu steigern.

8. Hebel zitiert Xenophon im Anhang zwar nicht wortwörtlich, wenn er schreibt ,,οτι σρατηγον έιναι χρη-κλέπτην", wohl aber behalt er recht, dass eben das genaue Wort (,,ipsissimo verbo")-i.e. κλέπτην-in besagter Passage der Memorabilia zu finden sei (siehe Hebel, Sammtliche Werke, Bd. 4, 327). Zum Vergleich sei hier auch Hebels Quelle angeführt: ,,άλλά μήν, ἔϕη ὁ Σωκράτης, inline graphic γɛ πολλοστòν μέρος ἐστί στρατηγίας. καί γὰρ παρασκευαστικόν inline graphic ɛἰς τòν πóλɛμον τòν στρατηγòν inline graphic, καὶ ποριστικòν inline graphic ἐπιτηδɛίων inline graphic στρατιώταις, καὶ μηχανικòν καὶ ἐργαστικὸν καὶ inline graphic καὶ καρτɛρικὸν καὶ ἀγχίνουν, καὶ ϕιλόϕρονά τε καὶ ὠμόν, καὶ inline graphic τɛ καὶ ἐπίβουλον, καὶ ϕυλακτικόν τε καὶ κλέπτην, καὶ προετικὸν καὶ ἅρπαγα καὶ ϕιλόδωρον καὶ πλεονέκτην καὶ inline graphic καὶ ἐπιθετικόν, καὶ ἄλλα πολλὰ καὶ ϕύσει καὶ ἐπιστήμῃ inline graphic τὸν inline graphic στρατηγήσοντα ἔχειν" (Xen. Mem. 3.1.6. Xenophon; meine Hervorhebung). [,,Aberdas ist ja, sagte Sokrates, nur ein sehr kleiner Theil von der Feldherrnkunst. Denn auf alles, was zur Ausrüstung gehört, sowie auf die Beschaffung der Lebensmittel für seine Soldaten muß sich ja der Feldherr verstehen, er muß erfinderisch, thatig, sorgsam, ausdauernd, scharfsinnig, freundlich, rauh, offen, hinterlistig, wachsam und zur Tauschung geschickt, alles wagend und alles zu haben wünschend, freigebig und habsüchtig, vorsichtig und auflauernd sein und noch viele andere natürliche und angelernte Kenntnisse muß der besitzen, der ein Heer gut befehligen will" (Xen. Mem. 3.1.6. Xenophon und Güthling).]

9. Der hier im Zitat ausgelassene ,,kahle[. . .] Felsen" scheint in Hebels Reihe nur aufgrund eines von zwei Kriterien zu passen. Wie zum Beispiel die Mauer und das Dach ist auch der Felsen als Grundlage für pflanzliches Leben (eher) ungeeignet. Entgegen dem Feld, Weg, etc. ist aber der Fels nicht von Menschenhand geschaffen. Daraus ergeben sich zwei mögliche Lesarten. Entweder ist Hebel das zweite Kriterium in der Komposition dieses Satzabschnittes nicht vorrangig, oder es besteht eine Option, den Felsen als buchstablichen zu lesen. Handelte es sich zum Beispiel um eine Metonymie, so könnte der Fels im Intertext mit Matthaus 16,18 als ɛκκλησία, also christliche Gemeinde oder Kirche gelesen werden: ,,Du bist Petrus / vnd auff diesen Felsen wil ich bawen meine Gemeine". Diese Lesart, die den Anklang einer weitreichenden Kirchenkritik hörbar machen würde, muss auf den ersten Blick als unwahrscheinlich oder gar unhaltbar gelten. Im Kontext einer spateren Passage aus Über die Verbreitung der Pflanzen wird diese Anspielung aber wieder plausibel.

10. Alleine das Deutsche Sprichworter-Lexikon von Karl Friedrich Wilhelm Wander führt 33 Redewendungen unter dem Lemma ,,Eiche" und 18 weitere unter „Eichel" (763-764)

11. In Opposition zu dieser gewachsenen Signifikanz des Baumes scheinen Klopstocks Bemühungen, die Eiche im 18. Jahrhundert als germanisch verwurzeltes, deutsch-nationales Symbol zu etablieren, seltsam künstlich. Klopstocks Versuche an einem Nationalsymbol haben ihm unter anderem den Spott Goethes eingebracht. Jener schreibt in Die KraÜnze ,,Klopstock will uns vom Pindus entfernen; wir sollen nach Lorbeer / Nicht mehr geizen, uns soll inlandische Eiche genügen / Und doch führet er selbst den überepischen Kreuzzug / Hin auf Golgatha's Gipfel, auslandische Götter zu ehren!" (Goethe 140).

12. Johann Peter Hebels Ohr für Gleichklange bzw. Homophone, die Wort- und Sprachgrenzen leichtfertig überwinden, hat, zeigt sich vielleicht am deutlichsten in der Kalendergeschichte Mißverstand, in welcher ein schwabischer Grenzsoldat die Beleidigung ,,Filu [sic!]" seines französischen Pendants als im eigenen Dialekt gestellte Frage nach der Zeit versteht: ,,Wie viel Uhr?" (Hebel, Bd. 2, 75).

13. Vgl. hierzu auch das Protagoras-Fragment zur homo mensura, welches bei Plato überliefert ist: ,,Κινδυνɛύɛς μέντοι λόγον οὐ inline graphic ɛίρηκέναι πɛρὶ ἐπιστήμης, ἀλλ' ὃν ἔλɛγɛ καὶ Πρωταγόρας. τρόπον δέ τινα ἄλλον ɛἴρηκɛ τὰ αὐτὰ inline graphic. ϕησὶ γάρ που 'πάντων χρημάτων μέτρον' ἄνθρωπον inline graphic,'inline graphic μὲν ὄντων ὡς ἔστι, inline graphic δὲ μὴ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν.' ἀνέγνωκας γάρ που" (Thaeteton 151-152a. Platon). [ ,,Und gar keine schlechte Erklarung scheinst du gegeben zu haben von der Erkenntnis, sondern welche auch Protagoras gibt; nur daß er dieses namliche auf eine etwas andere Weise ausgedrückt hat. Er sagt namlich, der Mensch sei das Maß aller Dinge, der Seienden wie sie sind, der Nichtseienden, wie sie nicht sind. Du hast dies doch gelesen?" (Theaitetos 151-152a. Platon).]

14. Hebel nennt hier falschlicherweise den 26. Dezember anstelle des mathematisch korrekten 26. Septembers. In der für das Schatzkastlein überarbeiteten Fassung ist der Fehler behoben. Vgl. hierzu Winfried Theiss Anmerkungen in Reclams kritischer Gesamtausgabe von Hebel SchatzkaÜstlein des rheinischen Hausfreundes (307).

15. Ein anderes, intuitiveres, direktes aber momentares Verstehen einer Heilserfahrung im Diesseits war für Hebel vorstellbar, zum Beispiel in der intensiv gelebten Erfahrung von Liebe, wie er sie in Der Spaziergang an den See zwischen Adeline und dem Praktikanten beschreibt.

Zitierte Literatur

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