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Musikphilosophische Schriften. Texte und Dokumente by Günther Anders

Musikphilosophische Schriften. Texte und Dokumente. Von Günther Anders. Herausgegeben von Reinhard Ellensohn. München: Beck, 2017. 417 Seiten + 22 s/w Abbildungen. €39,95 gebunden, €33,99 eBook.

Günther Anders (1902–1992) dürfte gegenwärtig besonders als politisch engagierter Philosoph, Technologie-Kritiker und Anti-Atomkraft-Aktivist bekannt sein; dass er [End Page 474] nicht zuletzt einer der radikalsten Musikphilosophen war, wird durch die jetzt vorliegende kritische Edition seiner diesbezüglichen Schriften aus den 1920er und 1930er Jahren nachdrücklich ins Bewusstsein gehoben. Wie der Herausgeber Reinhard Ellensohn in seinem ausführlichen biographischen Nachwort referiert, wollte Anders ursprünglich Musiker werden, studierte dann aber Philosophie und Kunstgeschichte. Bekannt war er mit dem Kreis um Arnold Schönberg sowie mit Theodor W. Adorno, Hanns Eisler und Bertolt Brecht; er promovierte 1924 in Freiburg bei Edmund Husserl und studierte dann ein Jahr bei Martin Heidegger in Marburg. Seine frühe Studie ,,Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen" (abgeschlossen 1930/1931) ist maßgeblich von der phänomenologischen Analyse Husserls und der Existentialontologie Heideggers geprägt. Mit ihr wollte sich Anders bei Paul Tillich in Frankfurt habilitieren, scheiterte aber an den politischen Zeitumständen, der Unentschlossenheit Tillichs und dem negativen Urteil Adornos, der in der Studie zuviel Heidegger und zu wenig musikalisch-technische Details fand. Wie Walter Benjamins Habilitation zum Ursprung des deutschen Trauerspiels, die ebenfalls in Frankfurt scheiterte, sich aber als einer der maßgeblichen Beiträge zum Thema erweisen sollte, prägt Anders' Studie eine geradezu schockartige Radikalität, eine im Tonfall oft apodiktisch-definitiv vorgetragene, aber intellektuell ungemein tiefschürfende Reflexion. Sie verschärft ihr Thema – die bewusstseinsverändernde Neu-Situierung des menschlichen Subjekts in einer anderen Welt im Akt des musikalischen Nachvollzugs – derartig überzeugend, dass gerade die Einseitigkeit des Arguments zu kritischem Umdenken anleitet.

Könnte man annehmen, dass musikalisches Hören direkt in realweltliche Kontexte eingebunden ist, so geht Anders davon aus, dass die musikalische Situation von einer Gespaltenheit des Subjekts gekennzeichnet ist, durch ein notwendiges ,,Zugleich-sein des In-der-Welt-seins und des In-Musik-seins in einer Existenz" (16). In dieser existentiellen Simultaneität erweist es sich, dass die Bestimmungen des Seins in der Musik die ,,ontologischen Fundamentalcharaktere menschlichen Daseins erschüttern, ja aufheben, und ihrerseits eine eigene Existenzart anzeigen" (16). Sobald man sich also der überwältigenden Macht der Musik ergibt, so Anders, wird man ,,aus dem Kontinuum des eigenen Lebens herausgerissen," so dass die reale, biographische Lebenswelt geradezu imaginär erscheint (17). Man verweilt dann nicht mehr in der historisch-biographischen Zeit, sondern in einem genuin anderen Jetzt, eben der rein musikalischen Zeit, die zwar von ,,immanenten Rückweisungen und Vorweisungen" des musikalischen Materials bestimmt ist (38), nicht aber eigentlich von der lebensgeschichtlichen Erinnerung. Letztere bezieht Anders auf eine Rettung des Gewesenen durch eine mimetische Abbildung, die er zumindest der absoluten, instrumentalen Musik abspricht (54–55). Diese ,,grundsätzliche Abbildlosigkeit und Sinnfremdheit der Musik" (81), mit der er sich implizit gegen die von der musikalischen Hermeneutik verteidigte Deut- und Übersetzbarkeit der Musik in verbalsprachlichen und lebensweltlichen Kontexten wendet, verbindet Anders mit der These, dass Musik nicht etwas Bestimmtes aussage oder über konkrete Sachverhalte unterrichte, sondern eine fundamentale Verwandlung des sich selbst erfahrenden Subjekts bewirke; musikalische Erfahrung führe zu einer fundamentalen ,,Aufgeschlossenheit" des Menschen, die sich ,,in der täglichen Kontinuität seines Lebens nicht verwirklicht" (81). Dementsprechend bezeichnet Anders das musikalische Lauschen als etwas, ,,in dem das Erlauschte aus einer Sphäre hertönt, die grundsätzlich geschieden ist von derjenigen, in [End Page 475] der sich der lauschende Mensch als Mensch in Umwelt befindet" (113). Wichtig erscheint mir an dieser Position nicht zuletzt, dass sie ein Moment des (musikalischen) Hörens betont, das z. B. von den gegenwärtigen, an der technologischen Medienmaterialität interessierten Sound Studies oft vernachlässigt wird, nämlich die meta-physische Dimension. Sie thematisiert Anders u.a., indem er das Lauschen mit dem Ahnen verbindet. ,,Das Metaphysische an der Ahnung," so Anders, besteht darin, dass ,,der Mensch als Ahnender etwas anderes als diese seine erfahrbare und disponible Welt und etwas anderes als sich [ … ] meinen kann" (120). Diese ,,Unfixiertheit" an die empirisch verfügbare Realität eröffnet als metaphysische Erfahrung einen Transzendenz setzenden Akt des lauschenden Bewusstseins.

Auch konkrete Beiträge zur zeitgenössischen Musiksoziologie hat Anders geliefert. Der platt historisch-materialistischen These von Hanns Eisler, ,,ästhetische Wertmaßstäbe" entsprächen ,,ausschließlich Klassen-Interessen und dienen diesen" (193), setzt Anders entgegen, dass er weder an die vulgärmarxistische Basis-Überbau-These noch an die fälschlicherweise der bürgerlichen Ästhetik unterstellte Auffassung von Musik als transzendalem (überhistorischem) Gebilde glaube, sondern meine, dass Musik ,,in der Fuge zu schweben" scheint, also den ,,Ursprünglichkeitsboden der Wirklichkeit" verlässt (196). Freilich ist sich Anders durchaus bewusst, dass die von ihm verteidigte Autonomie der musikalischen Situation als bewusstseinsverändernder Differenz von eben den realpolitischen Umständen bedroht ist, von denen die Musik sich absetzen will. So betont er, dass die ,,Phantastik der Welt selbst," ihr ,,Übermaß" und ,,unmenschlich[er] Wirtschaftsautomatismus" es dem Menschen immer weniger gestatten, sich der zweckfreien Andersheit des Musikalischen zu ergeben (184).

Anders' dritter Interessenbereich ist der musiktechnologische. So arbeitet er heraus, dass dasselbe Musikstück, wenn es aus verschiedenen Radioapparaten gleichzeitig ertönt, in jeweils anderen räumlichen Verortungen gehört wird, sich also gleichsam spukhaft in Doppelgänger verwandelt (248–250). In einem Beitrag von 1949 spekuliert er, womöglich unter Nichtkenntnis der stereophonischen Forschung Alan Blumleins von 1931/1933, dass sich durch die Kombination von zwei Radios eine Art akustisches Stereoskop ergäbe, bei der sich ein Raumeindruck mit musikalischer Bewegung in der Zeit verbinde. Problematisch ist freilich, dass Anders aus dieser Illusion ableitet, dass die so ertönende Musik keine dem optischen Stereoskop entsprechende bloße Ansicht oder Reproduktion einer Symphonie sei, sondern eine authentische Hörerfahrung ermögliche, bei welcher der ,,Unterschied zwischen Original und Kopie" seine Gültigkeit verliert (261–262; 269). Mir scheint, hier opfert Anders die Akzeptanz der material-ontologischen Differenz zwischen Live-Aufführung und Radio-Wiedergabe einer medientechnischen Utopie, nach der sich auch noch die Sound Studies zuweilen sehnen.

Anders' zum großen Teil bis dato unveröffentlichte Schriften, ergänzt durch Dokumente und Materialien, sind von Ellensohn philologisch vorbildlich herausgegeben und mit ausführlichen Anmerkungen, Literaturverzeichnissen und Abbildungen versehen. Die sich in diesen Texten abzeichnende Verortung der Musik im Netzwerk von phänomenologischer Reflexion, soziologisch-gesellschaftspolitischer Analyse und medientechnischer Kritik könnte, so ist zu hoffen, dazu beitragen, die gegenwärtig oft zu spürende Kluft zwischen historisch-systematischer Musikwissenschaft, Sound Studies und Philosophie zu überbrücken. [End Page 476]

Rolf J. Goebel
University of Alabama in Huntsville

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