
Wer zensierte Adélias wolllüstige Zigarette? Eça de Queirós und sein Romanwerk im Aufbau-Verlag
Regardless of its political couleur, every dictatorship seeks to control the literary scene in order to instrumentalize it for ideological purposes, to censor it, or to silence its voices of opposition. By recreating the background for the publication of Eça de Queirós’ novels by the GDR publishing house Aufbau this article investigates whether state-controlled censorship also interfered with literary translations or even with the concrete work of the translators. The archives of the Aufbau Publishing House, interviews with contemporary witnesses, the analysis of selected original texts as well as of their translations serve to answer the question whether the censors’ influence was limited to the state authorities’ interference in the preselection process of book titles by the publishing house, or if hidden censorship could also be detected at the linguistic level, i.e., in ideologically justified manipulations of literary expressions in the translations themselves. (AK; in German)
José Maria Eça de Queirós (1845–1900),1 bedeutendster portugiesischer Vertreter des Realismus, erregte aufgrund der kritischen und provokanten Sujets seiner Romane schon zu Lebzeiten Aufsehen. Doch nicht dies allein erklärt die eifrige Rezeption seines Werkes damals wie heute, in Portugal wie im Ausland. Er gilt darüber hinaus aufgrund seiner kreativen Wortschöpfungen, ausgefeilten Stilmittel und der Einbindung verschiedener Register bis heute als Erneuerer der literarischen Ausdrucksmittel der portugiesischen Literatur (Cal 1954). Bei der Veröffentlichung seines Werks in deutscher Sprache spielte der 1945 gegründete Ostberliner Aufbau-Verlag eine entscheidende Rolle. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lediglich vereinzelt Texte von Eça de Queirós in deutscher Sprache publiziert wurden, setzte der Aufbau-Verlag die erste und bislang einzige systematische Veröffentlichung der Werke des Portugiesen im deutschen Sprachraum um (Delille Recepção, 17–20). Insbesondere die großen Gesellschaftsromane der zweiten Phase seines literarischen Schaffens,2 in denen sich Eça zum Ziel gesetzt hatte, die gesamte portugiesische Gesellschaft wie in einem Spiegel3 einzufangen, fanden Aufnahme ins Verlagsprogramm, da sie mit ihrer antiklerikalen Einstellung sowie der bissig-ironischen Kritik an Verlogenheit, Eitelkeit und Machtstreben der Vertreter der gesellschaftlichen Säulen der Konstitutionellen Monarchie des Portugals der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – Bürgertum, Aristokratie und Klerus – dem ideologischen Konzept des ostdeutschen Literaturbetriebs entgegenkamen.
Am Beispiel der Veröffentlichung der Werke Eças unter Ägide des Aufbau-Verlags wird der Frage nachgegangen, inwiefern die in der DDR gängigen Zensurmechanismen auch literarische Übersetzungen betrafen, und zwar sowohl auf Ebene der Textauswahl als auch der sprachlichen Gestaltung der Übersetzungen, um Rückschlüsse dahingehend zu ziehen, ob auch die Arbeit des literarischen Übersetzers durch staatliche Kontrollorgane beeinflusst wurde. [End Page 202]
Zu diesem Zweck wurden einerseits Archivunterlagen des Aufbau-Verlags ausgewertet, die Einblicke in die Hintergründe der Werkauswahl, aber auch in die Arbeitsweise der Übersetzer erlauben. Andererseits wurden Zeitzeugen befragt – der Eça-Übersetzer Andreas Klotsch4 sowie der ab 1969 für portugiesische Literatur zuständige Aufbau-Lektor Horst Schulz.5 Ferner erlaubt der Forschungsstand gut dokumentierte Einblicke in die Unterwanderung des Literaturbetriebs durch inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit, was die Hintergründe von Eingriffen in das Verlagsprogramm beleuchtet (Walther; Kirsten; Müller).
Der Vergleich der bei Aufbau veröffentlichten Übersetzungen mit dem Original, aber auch mit in anderen historischen und sozio-ökonomischen Kontexten entstandenen Übersetzungen der gleichen Vorlage ist aufschlussreich für die Frage, inwiefern das implizit zugrundeliegende Verständnis der Funktion von Literatur seitens der beteiligten Akteure oder sogar explizite Eingriffe auf die Zieltexte durch ideologisch begründete Vorgaben diese Texte beeinflusst haben. Dies erlaubt Rückschlüsse auf die Arbeit des literarischen Übersetzers in der DDR, insbesondere die Frage betreffend, ob dieser, sich gewissermaßen in einem apolitischem Limbus bewegend, unbehelligt von politischem Druck arbeiten konnte und somit spezifische Textmerkmale lediglich auf die individuelle Arbeitsweise des Übersetzers zurückzuführen sind, oder aber ob sich die Vereinnahmung von Sprache durch das politische System auch auf die konkrete Arbeit der Übersetzer auswirkte und sich in wie auch immer gearteten Zensureingriffen in die Übersetzungen nachweisen lässt. Beate Müller betont in ihrer Untersuchung zu Jurek Beckers Publikationsgeschichte den Zusammenhang von Macht und Sprache: ,,Politisches Handeln ist mit sprachlichem Handeln verbunden, weil Politik durch kommunikative Akte erwogen, begründet, beschlossen, vermittelt, flankiert, kommentiert und u. U. auch vollzogen wird“ (Müller 36). Der Verdacht, dass in einem obrigkeitsgelenkten Kulturbetrieb Sprachduktus und Sprachregelungen selbst literarische Übersetzungen kontaminiert haben, liegt nahe und lässt sich durch konkrete Übersetzungsanalysen überprüfen.
Ein Blick auf die Arbeitsbedingungen in der DDR soll zunächst die Umstände erhellen, unter denen die Übersetzungen zustande kamen. Die ostdeutschen Literaturübersetzer arbeiteten in der Regel unter vergleichsweise guten Bedingungen (Creutziger 22–30; Reschke 19–22; Kerster/Risku 168, 173) und genossen ein von der Leserschaft wie von staatlicher Seite her gestütztes hohes gesellschaftliches Ansehen (Creutziger 27; Reschke, 21). Da sie als Verfasser eigenständiger Texte betrachtet wurden, konnten sie dem Schriftstellerverband beitreten, was ihnen eine Reihe fortbildungstechnischer wie lebenspraktischer Privilegien verschaffte (Walther 52; Reschke 21). Dennoch kommen die ehemaligen DDR-Literaturübersetzer Thomas Reschke und Werner Creutziger zu konträren Urteilen: Während Reschke schließt, ,,die Übersetzer [waren] [ . . . ] respektierte Partner und nicht das schwächste [End Page 203] Kettenglied, an dem die Verlage bei Honoraren, Tantiemen, Beteiligungen zu sparen trachteten“ (22), hält sie Creutziger für ,,– so wie in der Marktwirtschaft – Domestiken des Literaturbetriebs, [ . . . ] ein bißchen besser, mit ein bißchen mehr Achtung behandelt“ (35). Insbesondere blieben dem Übersetzer, der aus einer im westlichen Ausland gesprochenen Sprache wie dem Portugiesischen übersetzte, Zugang zu Studien- und Forschungsaufenthalten im Ausland sowie zu fachspezifischen Arbeitsmaterialien verwehrt (Creutziger 34), selbst an Wörterbüchern fehlte es oft, wie der ehemalige Aufbau-Lektor für portugiesische Literatur Schulz im Interview anmerkte.
Wenn der Übersetzer in der DDR auch relativ unbehelligt von ideologischen Vorgaben arbeiten konnte, so blieben doch literarische Übersetzungen von den gängigen Zensurmechanismen nicht verschont (Thomson-Wohlgemuth 94), was sich insbesondere hinsichtlich der Werkauswahl belegen lässt. Einerseits waren die DDR-Oberen darum bemüht, das ,,Leseland DDR“ als ,,aufgeklärtes, vergleichsweise liberales Land erscheinen zu lassen“ (Creutziger 21), andererseits hatte auch die fremdsprachige Literatur dem Kriterium politischer Opportunität zu genügen. Im Laufe der Jahre war die Zensur von staatlicher Stelle immer mehr an die Autoren selbst und an die Verlagsleiter delegiert worden (Lokatis 97–102; Thomson-Wohlgemuth 95–97; Creutziger 20). Dem Ministerium für Kultur vorzulegende Themenpläne (Thomson-Wohlgemuth 101) und verlagsinterne Titelannahmeverfahren bestimmten die Vorauswahl, Innenwie Außengutachten wurden den Druckgenehmigungsverfahren beigefügt. Bevor der Zensor zum Zuge kam, hatte oft bereits ,,die Schere im Kopf“ von Autoren, Lektoren und Verlagsleitern zensorische Arbeit geleistet (Creutziger 20; Wiesner 10 f.; Jäger 31). Desweiteren wurde verdeckte Zensur durch Mitarbeiter der Staatssicherheit betrieben, wie die Verhinderungsstrategien des Gutachters Alfred Antkowiak belegen, der als IM ,,Roiber“ im Auftrag der Staatssicherheit nicht nur Verlagsmitarbeiter, insbesondere Leitung und Cheflektoren, bespitzelte und in aggressivem Stasi-Jargon verfasste Berichte über Interna verschiedener Verlagshäuser ablieferte, sondern auch die Publikation progressiver Literatur durch seine Gutachten zu unterbinden versuchte (Kirsten 116–118, 121–132; Walther 86–87, 591–597, 941). Hochgebildet, intelligent und bestens mit dem Kulturbetrieb vertraut, war Antkowiak selber aufgrund angeblich revisionistischer Tätigkeiten in Haft gekommen, wo er der Stasi bereitwillig seine Dienste angeboten hatte (Walther 593).
Die flächendeckende Unterwanderung des gesamten Literaturbetriebs durch Mitarbeiter der Staatsicherheit hat Joachim Walther in seiner Studie zum Sicherheitsbereich Literatur genauestens untersucht. Auch der Aufbau-Verlag macht da keine Ausnahme: Cheflektor Günter Caspar6 wie Verlagsleiter Fritz-Georg Voigt (Walther 910–915; Müller 139–140; 99–103) sind als Mitarbeiter aktenkundig, und bei Antkowiak, selbst bei der Stasi für seinen ,,verbalen Übereifer“ bekannt (Walther 595), wurden regelmäßig Gutachten [End Page 204] erbeten, in denen dieser versuchte, die Publikation fortschrittlicher Texte zu verhindern (Kirsten 121–132).
Schon in den frühen 50er Jahren brachte der Aufbau-Verlag Die Reliquie sowie Das Verbrechen des Paters Amaro heraus, was der amtierende Cheflektor Caspar mit dem ,,Ruf nach atheistischer Literatur“7 begründete. In beiden Romanen werden Auswüchse von Bigotterie sowie priesterliche Heuchelei gegeißelt: Die vergnügliche Intrige des Romans Die Reliquie kreist um den Handel mit gefälschten Reliquien, die engherzige Frömmigkeit und Prüderie einer alten Tante, die Heuchelei ihres Neffen und der in ihrem Hause verkehrenden Geistlichen, die es alle letztlich auf die üppige Erbschaft der Tante abgesehen haben. Im Verbrechen des Paters Amaro verführt ein junger Priester ein gottesfürchtiges, kleinbürgerliches Mädchen und übergibt das aus dieser Verbindung hervorgegangene Neugeborene einer Engelmacherin. Pater Amaro, der sein Zölibat gebrochen und sich zum Handlanger der Tötung seines Kindes gemacht hat, findet in anderen Geistlichen, die es mit den katholischen Grundsätzen auch nicht so genau nehmen, Verbündete. Während er keinerlei Konsequenzen erleidet, muss das junge Mädchen seine Schwangerschaft geheimhalten und stirbt im Kindbettfieber. Mit der Kritik an übersteigerter Bigotterie und Doppelmoral der Vertreter des Klerus passten beide Romane in das oben erwähnte Konzept atheistischer Literatur, die in der DDR der 50er Jahre kulturpolitisch erwünscht war.
Auch andere Romane Eças wurden in diversen Gutachten aufgrund ihrer kritischen Gesellschaftsdarstellung zur Veröffentlichung empfohlen und bei Aufbau verlegt. Dazu gehört der Ehebruchsroman Vetter Basilio mit seiner Geißelung kleinbürgerlicher Strukturen, wie auch Der Graf von Abranhos mit seiner satirischen Kritik an den Stützen der damaligen Gesellschaft, insbesondere der korrupten und opportunistischen Politiker, aber auch der auf ihr leibliches und materielles Wohl bedachten Geistlichen, der bigotten Bürgerinnen und der hohlen Vertreter des Finanzbürgertums.
Die Gutachten spielten bei Entscheidungsfindung des Verlags und im Anschluss daran für die Druckgenehmigungsverfahren eine entscheidende Rolle. Kirsten macht darauf aufmerksam, dass diese Gutachten, wie auch andere Paratexte (Vor- und Nachworte oder Klappentexte) aufgrund ihrer besonderen Funktion insofern mit Filter zu lesen sind, als sie oft dazu dienten, ein Werk an der Zensur vorbeizuschiffen. (Kirsten 105 ff.) Insofern waren die Paratexte nicht unbedingt nur als Korrektiv für den Leser gedacht, sondern dienten oft auch als ,,,Passierschein‘ für Literatur, wenn sie den Herrschenden ideologisch bedenklich erschien“ (Creutziger 31).
Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Werke Eças wurde Antkowiak regelmäßig mit der Erstellung von Außengutachen beauftragt. In diesen stellt er einerseits fundierte Kenntnisse des Werks und der Forschungsliteratur unter Beweis, erweist sich verbal wie inhaltlich aber auch als höchst dogmatischer, linientreuer Gutachter, der selbst bei den Führungsoffizieren [End Page 205] der Staatssicherheit im Ruf eines Oberzensors stand. Antkowiak legte ein Nachwort zu dem Roman Vetter Basilio vor, das von der Redaktion stark gekürzt und überarbeitet wurde. Sowohl in Antkowiaks Darstellung als auch in der Überarbeitung seines Gutachtens durch den Verlag wird deutlich, dass mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln versucht wurde, aus dem bissigen und kritischen, aber auch elitären Romancier adliger Herkunft Eça de Queirós a posteriori einen Vertreter der marxistischen Ideologie zu machen. Ähnlich wurde im DDR-Literaturbetrieb hinsichtlich vieler anderer klassischer Autoren auch verfahren. So werden in dem Entwurf von Antkowiaks Nachwort, das den Roman ohnehin schon als recht klassenkämpferisch vorstellt, am marxistisch-leninistischen Jargon geschulte Wendungen eingeführt: ,,Mit der zunehmenden Kapitalisierung, die jahrelang im Bereich der Waren- und Geldzirkulation erfolgte, wuchs die Verelendung des Volkes, vornehmlich der kleinen Bauern.”8 Oder aber Antkowiak erklärt, die Vertreter der Conferências do Casino, denen Eça angehörte, hätten ,,eine permanente Aufklärung des Volkes” gesucht, was ,,die klassenlose, sozialistische Gesellschaft garantieren” sollte. Eça de Queirós nahm zweifelsohne eine höchst kritische Haltung seinem Land und dessen Gesellschaftsstützen gegenüber ein und verletzte mit seinen Sujets manche Empfindlichkeit, was ihm seitens seines Zeitgenossen Manuel Pinheiro Chagas sogar den Vorwurf des Vaterlandsverräters eintrug. Er war zugestandenermaßen revolutionär, in seinen Sujets wie in seiner literarischen Sprache, aber er war mitnichten ein Revolutionär im marxistischen Sinne, und ganz gewiss strebte er, der selber aus dem Adel stammte und in die alte portugiesische Aristokratie eingeheiratet hatte, keine klassenlose Gesellschaft an, sondern, wie er vielfach sowohl in Briefen als auch in seinen nicht literarischen Texten bezeugte, eine Erneuerung der Gesellschaft.9 Ob die marxistisch-revolutionäre Haltung, die nicht nur Außengutachter Antkowiak, sondern auch die Verantwortlichen des Lektorats für Auslandsliteratur dem kritischen, aber elitären Künstler unterstellten, das Ziel verfolgte, die zwecks Veröffentlichung ausgewählten Werke durch die Zensur zu bringen, oder aber ob Antkowiak, in vorauseilendem Gehorsam, seine Texte massiv mit solchen politisierenden Wendungen spickte, lässt sich aus der historischen Distanz nicht mehr klären. Tatsache ist, dass die genannten Romane veröffentlicht wurden und fast ausnahmslos in mehreren Auflagen erschienen.
Dass die meisten Romane Eças aufgrund ihrer ideologisch opportunen Sujets problemlos Aufnahme ins Verlagsprogramm fanden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Werkauswahl auch dieses Autors durch die vielschichtigen Zensurprozesse bestimmt war. Ein klassischer Fall von Zensur führte dazu, dass die unter dem Titel Prosas Bárbaras veröffentlichten frühen Prosastücke von Eça de Queirós sowie etliche seiner Erzählungen von der Publikation ausgeschlossen wurden. Zwei Gutachten wurden zu diesen Prosatexten und den Erzählungen vorgelegt, und zwar von den Übersetzern Rudolf Krügel und Hans Wiltsch. Auf diese beiden Gutachten bezieht sich [End Page 206] Außengutachter Antkowiak in einem ausführlichen Schreiben, in dem er einen Vorschlag zur Publikation ausgewählter Werke von Eça de Queirós unterbreitet. Die Gutachten der Übersetzer, so Antkowiak, ,,erläutern recht brav den Inhalt der ,Contos‘ bzw. einiger Skizzen aus den ,Prosas bárbaras‘“,10 berücksichtigten aber nicht den Gesamtkomplex des Werkes. Während sich Übersetzer Krügel, die ,,humanistischen Gedankengänge“11 dieser Texte hervorhebend, wohlwollend hinsichtlich einer Publikation äußert, verwirft Antkowiak die Erzählungen in Bausch und Bogen, da es Eça in diesen Texten – anders als in seinen Romanen – angeblich nicht gelungen sei, die sozialen Widersprüche seiner Zeit angemessen zu reflektieren. Die künstlerische Bedeutung der Erzählungen sei ,,daher gleich Null“, sie seien nichts als ,,Randerscheinungen“, ,,Milieustudien“, ,,Präludien“ oder ,,Vorübungen“ zu seinen Romanen.12
Obwohl sich Antkowiak in seinen Überlegungen in Widersprüche verheddert, setzte er sich trotz Vorbehalten seitens der Verlagsleitung gegen den Gutachter Krügel zumindest insofern durch, als die Prosas Bárbaras nicht in die geplante zehnbändige Werkausgabe aufgenommen werden.13 Hinweise auf stilistische Qualitäten oder inhaltliche Merkmale wie die Behandlung von Individualkonflikten in den Texten konnten sich nicht gegen eine rein ideologisch fundierte Textauswahl behaupten. Im Übrigen kam es auch später weder zur Publikation des geplanten neunten Bandes mit ausgewählten Erzählungen noch des zehnten Bandes (Schriften). Es ließ sich anhand der Aktenlage (Archiv Aufbau-Verlag) und durch die Befragung eines Zeitzeugen (Aufbau-Lektor Schulz) nicht klären, ob dies letztendlich auf Zeitprobleme, auf die permanente Ressourcenknappheit oder doch auf die Verhinderungsstrategien Antkowiaks zurückzuführen ist, oder aber ob der Veröffentlichung der letzten beiden, immer wieder vertagten Bände schlichtweg die Wirren der Wende in die Quere kamen.
Während sich Zensureingriffe hinsichtlich der Werkauswahl belegen lassen – wenn auch nur vermittelt durch den Gutachter Antkowiak, der im Vorfeld dafür Sorge zu tragen versuchte, dass weder progressive noch dem Sozialismus nicht unmittelbar zuarbeitende Literatur den Weg in die Druckereien fand –, geht die sprachliche Ausgestaltung der Übersetzungen meist ausschließlich auf die Initiative der Übersetzer zurück.
Die meisten Eça-Übersetzungen bei Aufbau erschienen in den 50er und 60er Jahren. Zunächst wurde, wie in den ersten Jahren nach Verlagsgründung aus Zeitnot üblich, auf bereits vorliegende Übersetzungen zurückgegriffen, in vorliegendem Fall auf die Übersetzung des Romans Die Reliquie von Richard A. Bermann, die bereits 1919 im Leipziger Kurt Wolff Verlag erschienen war, und auf die Übertragungen des 1946 verstorbenen Übersetzers Willibald Schönfelder (Das Verbrechen des Paters Amaro; Der Mandarin).14
Erst ab den späten 50er Jahren beauftragte der Verlag Krügel mit der Übersetzung zahlreicher Romane Eças. Die schwierigen Arbeitsbedingungen, [End Page 207] mangelnder Zugang zu Forschungsliteratur, Zeitdruck, finanzielle Bedrängnisse, aber auch Krügels bis zur Pedanterie reichender Ehrgeiz, philologisch sorgfältig erstellte Übersetzungen vorzulegen, stets bemüht, ,,das Letzte aus dem Original herausholen“, sind in seiner Korrespondenz mit dem Verlag bestens dokumentiert.15 Neu übersetzt wurde 1984 Die Reliquie durch Andreas Klotsch, als Ablösung der alten Bermannschen Übersetzung, vermutlich aufgrund ungeklärter Rechtsverhältnisse der Autorenrechte dieser Übersetzung.16 Zuvor jedoch erfuhr die Bermannsche Übersetzung im Auftrag des Verlags eine sprachliche Überarbeitung durch Elga Abramowitz, einer Übersetzerin, die für Aufbau und andere ostdeutsche Verlage aus dem Englischen übersetzte. Die Durchsicht des Textes nahm sie mithilfe des Originals und eines Wörterbuchs vor und zog in Zweifelsfällen den Übersetzer Krügel zu Rate.17
Anhand der Übersetzungen dieses Romans sowie der genannten Überarbeitung lässt sich exemplarisch aufzeigen, dass es letztlich das Verdienst des Übersetzers war, ob stilistische Merkmale des Ausgangstextes in der Übertragung ihren Niederschlag fanden. In der 1918 durch den Journalisten, Schriftsteller und Eça-Liebhaber Bermann vorgelegten Übersetzung von Die Reliquie versuchte dieser, selber dem sprachlichen Feingefühl der Wiener Moderne verpflichtet, sprachschöpferisch dem Individualstil Eças gerecht zu werden. Diese Übertragung Bermanns erfuhr im Laufe der 50er Jahre mehrfache Neuauflagen durch den Aufbau-Verlag. Die von Abramowitz gründlich überarbeitete Fassung (Auflagen 1960Auflagen 1963) weist eine Fülle von Veränderungen auf, die insbesondere Wortwahl, Satzstellung, Interpunktion und Anredeformen betreffen, und die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können. In Hinblick auf die Kollokation wurden lexikalisch dem Kontext angemessenere Vokabeln verwendet, veraltete Wörter durch modernere ersetzt, sprachliche Ungenauigkeiten behoben und Übersetzungsfehler vereinzelt ausgeräumt, die Satzstellung dem Normdeutschen angeglichen und, der gängigen Verlagspraxis folgend, von Bermann übersetzte portugiesische Bezeichnungen wieder in die Originalssprache zurückversetzt. Aufschlussreich ist jedoch, dass der Revision durch Abramowitz auch eine Reihe stilistischer Merkmale des portugiesischen Autors zum Opfer fielen, deren rhetorische Bedeutung und Implikationen für den Gesamttext sie voraussichtlich nicht erkannte. Durch die Eliminierung sprachlicher Ausdrucksmittel, die oft eine – wohlgemerkt intendiert – verwirrende oder verstörende Wirkung haben, ist der Text nun flüssiger zu lesen, doch der Individualstil Eças musste einer dem Normdeutschen angeglichenen Fassung weichen. Dies betrifft insbesondere die Hypallagen, die Eça de Queirós in dem Roman gezielt zur Schaffung einer impressionistischen Atmosphäre und zur Evokation des Innenlebens der Figuren einsetzt und die Abramowitz größtenteils auflöst. Übersetzungsfehler, die schon Bermann unterlaufen waren, wurden nur selten ausgeräumt, was insofern nicht verwunderlich ist, als Abramowitz des Portugiesischen gar [End Page 208] nicht mächtig war und ihr diese vermutlich gar nicht auffielen, sofern sie nicht mit dem Kontext kollidierten.
Klotsch hingegen legte mit seiner Neuübersetzung eine auf denotativer Ebene fast fehlerfreie, flüssig lesbare Übersetzung vor. Seine Fassung zeugt von stilistischem Gespür, und verglichen mit der durch Abramowitz revidierten Fassung weist er sich als erfahrener und stilistisch zu mehr Wagnissen bereiter Übersetzer aus. Verglichen mit Bermann bildete Klotsch allerdings etliche stilistische, für die Charakterisierung von Personen oder Stimmungen wesentliche Merkmale nicht ebenso kreativ nach.
Diese Tendenzen möchte ich anhand einiger Beispiele exemplarisch veranschaulichen. Kennzeichnend für den Stil von Eça de Queirós ist die Ironie, die vor allem durch satirisch übersteigerte Darstellung umgesetzt und durch ungewöhnliche Wortkombinationen oder Wortschöpfungen verstärkt wird. Der pedantisch-penible deutsche Professor Topsius, der den Protagonisten der Reliquie auf Teilen seiner Pilgerfahrt nach Jerusalem begleitet, von wo er seiner bigotten Tante eine Reliquie mitbringen soll, wird folgendermaßen charakterisiert: ,,Cedo, ao outro dia, domingo, o incansável Topsius partiu, bem enlapisado e bem enguarda-solado, a estudar as rúınas de Jérico“ (Queirós Relíquia, 113). Bei Bermann, der den Roman mit subtilem Gespür und Mut zur Kreativität übersetzt hat, lautet diese Passage: ,,Früh am anderen Morgen brach der unermüdliche Topsius, wohlbebleistiftet und wohlbesonnenschirmt, auf, um die Ruinen von Jericho zu studieren“ (Reliquie 1984, 143). Fett hervorgehoben in Original und Übersetzung sind die Attribute, die dem pedantischen Bildungsbürger Topsius – übrigens eine Parodie auf den deutschen Ägyptologen Karl Richard Lepsius (Anm. 25 Grossegesse 95) – zugeordnet sind und zu einer ironisch-bissigen Charakterisierung beitragen.
Abramowitz hingegen schien genau diese kreative Nachbildung zu missfallen, und wie in vielen anderen, ähnlich gelagerten Fällen ersetzte sie die sprachlich gewagte Nachbildung Bermanns durch einen konventionellen Ausdruck. So heißt es in der überarbeiteten Fassung: ,,Früh am anderen Morgen brach der unermüdliche Topsius, mit Bleistiften und Sonnenschirm versehen, auf, um die Ruinen von Jericho zu studieren“ (Reliquie 1963, 116). Nicht nur die gelungene Wortschöpfung Bermanns fällt diesem Eingriff zum Opfer, sondern auch der damit erzielte Effekt, die ironisch-parodistische Charakterisierung des deutschen Archäologen. In der Neuübersetzung durch Klotsch lautet die entsprechende Passage: ,,Tags darauf, es war ein Sonntag, brach der nimmermüde Topsius, wohlversehen mit Notizstift und Sonnenschirm, zeitig zum Studium der Ruinen von Jericho auf“ (Reliquie 1984, 116). Auch hier wurden Wortkreationen der literarischen Vorlage durch sprachlich konventionelle Wendungen wiedergegeben. Der Zieltext ist nun glatt und flüssig zu lesen, hat aber an spielerischer Suggestivkraft verloren. [End Page 209]
In erwähnter Aktennotiz, die durch Cheflektor Caspar und den Leiter des Lektorats Auslandsliteratur Voigt abgezeichnet ist, heißt es zur Überarbeitung durch Abramowitz: ,,Der Text hat zwar gewonnen, nichtsdestoweniger kann man diese Übersetzung nicht als das letzte Wort betrachten.“ Diese Äußerung gehört zu den seltenen Stellungnahmen seitens der Lektoratsleitung zur Qualität der Übersetzungen. Ganze Aktenberge türmen sich, in denen diskutiert und beantragt wird, was zu übersetzen sei, allenfalls peripher geht es darum, wie zu übersetzen sei. Daher ist diese Notiz aufschlussreich, denn hinter ihr mag sich eine die sprachliche Gestaltung betreffende Verlagspraxis verbergen. Die Überarbeitung der älteren Bermann-Übersetzung unter Regie von Aufbau verfolgt allem Anschein nach – dem Prinzip der Funktionalisierung von Literatur im Sozialismus verpflichtet (Thomson-Wohlgemuth 94 f.) – das Ziel, eine ursprünglich auf den Individualstil bedachte Übertragung flüssiger lesbar zu machen. Der Vergleich der Bermann-Übersetzung mit der im Auftrag des Aufbau-Verlags revidierten Fassung derselben durch Abramowitz, die minutiös sprachliche Ungenauigkeiten ausgeräumte und eine Fülle kleiner Veränderungen vornahm, macht zweierlei deutlich: Bermanns Übersetzung bedurfte de facto einer gründlichen Überarbeitung, aber eben auch die gelungensten sprachlich-kreativen Nachbildungen Bermanns fielen dieser Revision zum Opfer. Das heißt, auch die Passagen, in denen Bermann sich als Eça verpflichteter Stilist und kreativer Nachbildner seiner Vorlage hervortut, wurden sprachlich geglättet, überraschende Wendungen und Wortschöpfungen mussten normsprachlichen Ausdrücken weichen.
So wurden fast alle für Eça de Queirós so typischen Hypallagen, die in der Relíquia geballt zum Einsatz kommen, gestrichen und durch sprachlich konventionelle Wendungen ersetzt.
Diese rhetorische Figur, die in der syntaktischen Zuordnung eines Attributs zu einem Wort besteht, zu dem es semantisch nicht gehört, ist ein von Eça de Queirós in der Relíquia in überbordender Fülle eingesetztes Stilmittel, das die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum, Belebtem und Unbelebtem verschwimmen lässt und so maßgeblich zur Schaffung impressionistischer Stimmungsbilder und Darstellung des Innenlebens der Personen beiträgt. Und im Gegensatz zu vielen anderen Stilmitteln, die sich aufgrund morphologischer Merkmale, die die portugiesische Sprachstruktur von der deutschen unterscheidet, nicht ins Deutsche übertragen lassen, sondern in anderer Form kompensiert werden müssen, wäre es strukturell ein Leichtes, die Hypallagen im Deutschen wiederzugeben.
Doch während Bermann die meisten der rund 80 für diesen Übersetzungsvergleich analysierten Hypallagen beibehält, werden diese in der durch Abramowitz überarbeiteten Fassung größtenteils aufgelöst, meist durch die Verwendung eines Adverbs statt eines Adjektivs. Die kleine Prostituierte, mit der der Ich-Erzähler eine Liebschaft beginnt, wird folgendermaßen eingeführt: ,,E a Adélia, estendida num sofá, de chambre e em saia branca, com [End Page 210] os chinelos cáıdos no tapete, fumava um cigarro lânguido“ (28). Adélia rauchte also eine sinnliche, laszive Zigarette. Das morphologisch der Zigarette zugeordnete Attribut ,,lânguido“ (lasziv) schafft sprachlich ein verschwommenes, sinnliches Bild, in dem dieses Attribut sich auf die Person und die gesamte Atmosphäre überträgt. Bermann bildet dies kreativ nach: ,,Und die Adelia, in der Nachtjacke und im weißen Unterrock, mit Pantoffeln, die neben ihr auf den Teppich gefallen waren, lag lang auf dem Sofa, rauchte eine wollüstige Zigarette“ (Reliquie 1981, 28). Abramowitz ,,korrigierte“ diese höchst suggestive Hypallage, indem sie das Attribut in einer adverbialen, somit normsprachlich zu erwartenden Wendung ausdrückte: ,,Und Adelia, in einer Nachtjacke und im weißen Unterrock – ihre Pantoffeln waren neben ihr auf den Teppich gefallen –, lag lang auf dem Sofa, rauchte lässig eine Zigarette“ (Reliquie 1960, 24). Bei Klotsch heißt es: ,,sie rauchte versonnen eine Zigarette“ (Reliquie 1984, 24). Der mittlerweile von seiner Geliebten zurückgewiesene Protagonist raucht bei Bermann ,,stumme Zigaretten“ (,,cigarros mudos“). Auch diese Figur glättet Abramowitz, indem sie ihn ,,stumm Zigaretten rauchend“ (45) warten lässt, dass sich doch endlich Adélias Schlafgemach öffne. Ähnlich verfährt Klotsch: ,,während ich, Zigaretten rauchend, stumm in einer Ecke wartete“ (44). Mit der Auflösung der Hypallagen geht das Evozierende, das Verstörende, das Andeutende dieses Textes verloren, indem es auf reine Wiedergabe von erzählbaren Ereignissen reduziert wird. Während Bermann in kreativer Nachbildung der Hypallage bei Eça seinen Protagonisten als Kind im katholischen Internat abends in ,,schläfrigen Wörterbüchern“ (für ,,dicionários sonolentos“, Relíquia 2009, 18) blättern lässt, werden diese unter Abramowitz‘ Rotstift zu einschläfernden Wörterbüchern (13), und auch Klotsch kann sich nur zu ,,behäbigen Nachschlagebüchern“ (13) durchringen.
So kommt in der Revision durch Abramowitz, tendenziell ebenso in der Übertragung durch Klotsch – wenngleich dieser auch wesentlich kreativer vorgeht – der denotativen Aussage größere Bedeutung zu als der Gestaltung derselben. Es ist davon auszugehen, dass das Aufbau-Lektorat eine sprachschöpferisch kreative Nachbildung all dieser rhetorischen Figuren als Stolperstein für eine flüssige Lektüre beanstandet hätte, zumal Eça de Queirós aufgrund seiner kritischen Sujets, nicht aber aufgrund seiner innovativen Sprache Aufnahme ins Verlagsprogramm gefunden hatte. Dies ist nicht zuletzt unter den Vorzeichen der seit Beginn der 50er Jahre schwelenden Formalismusdebatte zu verstehen, die zu einer Verunglimpfung formbetonter Kunst als dekadent-ästhetizistischer Spielerei führte, an der auch die Proklamation Honeckers 1971 nichts änderte, in Kunst und Literatur dürfe es weder inhaltliche noch stilistische Tabus geben, da diese bekanntlich durch die Kulturpolitik der DDR nicht eingelöst wurde.
Es finden sich in den Archivunterlagen keinerlei Hinweise auf etwaige Vorgaben für die Übersetzer, wie diese zu übersetzen hätten, und sowohl [End Page 211] Aufbau-Lektor Schulz als auch der Übersetzer Klotsch bestätigten mir die Feststellungen von Creutziger und Reschke, die Übersetzer in der DDR hätten autonom gearbeitet und im Zweifelsfall das letzte Wort behalten. Nach stilistischen Vorgaben gefragt, antwortete mir Klotsch: ,,Solches war absolut unüblich in der Sparte Belletristik. Da stand, zum möglichst adäquaten Gelingen der Übertragung, obenan allemal der eigenschöpferische Beitrag des Übersetzers.“18 Diese schöpferische Freiheit, gepaart mit einem Handlungsspielraum jenseits der den übrigen Literaturbetrieb umfassend kontrollierenden Zensurmechanismen, eröffnete dem Übersetzer kreative Freiräume. Dennoch legen die systematischen Eingriffe in die Bermannsche Übersetzung im Auftrag des Aufbau-Verlags den Schluss nahe, dass sich hier durchaus Zensur manifestiert. In letzter Instanz lässt sich nicht mehr eindeutig klären, ob die Eingriffe durch Abramowitz ihrer mangelnden Sensibilität hinsichtlich der elaborierten sprachlichen Gestaltung Eças mit all ihren Implikationen für den Charakter des Romans geschuldet sind oder ob sie bewusst die rhetorischen Raffinessen ausräumte und sich damit der Tabuisierung elaborierter Ausdrucksformen beugte, die dem staatlich verordneten Literaturbegriff entgegenstanden. In jedem Fall schien die Überarbeitung den Vorstellungen des Cheflektors Caspar entsprochen zu haben, der – wie erwähnt – vermerkt, der Text habe ,,gewonnen.“ Es ist meines Erachtens zwar nicht davon auszugehen, dass die hier dargestellten Eingriffe in die sprachliche Gestaltung auf explizit ausformulierte verlagsinterne Richtlinien zurückzuführen sind, jedoch ergaben sich aus den ZK-Plena, insbesondere dem 11. Plenum des ZK 1965, der Formalismusdebatte und Leitlinien des Schriftstellerverbands Orientierungen, die in der Praxis ihren Niederschlag fanden. Was in der Revision als vermeintliche Verbesserungsmaßnahmen umgesetzt wurde, erweist sich in vielen Fällen letztlich als eine höchst subtile Form der Zensur, die den literarischen Text in nicht unerheblichem Maße stilbildender Merkmale beraubt. Daran lässt sich in aller Deutlichkeit die Reduzierung von Literatur auf die Funktion eines ideologischen Instruments sowie eine eklatante Beschneidung ihrer ästhetischen Ausdrucksformen ablesen.
Ein vergleichender Blick auf die wenigen Übersetzungen des Werks von Eça de Queirós, die zeitgleich mit oder nach den Aufbau-Publikationen in der Bundesrepublik erschienen, erhellt dennoch den philologisch hervorragenden Dienst, den die Aufbau-Mitarbeiter – allen erschwerenden Bedingungen und Bedrängnissen durch die Zensurorgane des staatlichen Literaturbetriebs und allen sprachlichen (Zensur-)Eingriffen zum Trotz – dem portugiesischen Schriftsteller erwiesen haben. Eine in Umfang verstümmelte Übertragung wie die von Helmut Hilzheimer im westdeutschen Verlag Kurt Desch publizierte,19 die dem deutschen Leser den Primo Basílio in einer ästhetisch ansprechenden, bibliophilen, aber stark beschnittenen Ausgabe vorlegte, und dies ohne eine einzige erklärende Anmerkung oder ein Vorbzw. Nachwort, lediglich begleitet von dem vagen Beisatz ,,Ins Deutsche übertragen und frei [End Page 212] bearbeitet von Helmut Hilzheimer“,20 wäre im Aufbau-Verlag ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Ebensowenig wäre bei Aufbau so etwas passiert wie die Neuauflage einer alten, nur oberflächlich überarbeiteten Übersetzung unter einem fremden Namen, statt den des eigentlichen Übersetzers zu nennen, wie dies 1954 im Münchner Duncker Verlag geschah, der die alten, verlagseigenen Übersetzungen von Otto Hauser des Mandarin (1919) und der Erzählung Der Gehenkte (1918) geringfügig überarbeitet als Übersetzungen von Hermann Baltzer herausgab.21
Hinsichtlich der Veröffentlichung des Werks von Eça de Queirós kommt dem Aufbau-Verlag das bislang einmalige Verdienst zu, dem Leser nicht nur eine systematisch erarbeitete Werkausgabe vorgelegt zu haben – die zwar nicht abgeschlossen wurde, aber in deren Rahmen immerhin acht der zehn geplanten Titel publiziert wurden – wie auch philologisch sorgfältig erstellte, mit Voroder Nachwort sowie ausführlichen Anmerkungen versehene Übersetzungen von Werken des bedeutendsten portugiesischen Romanciers – wenn nicht überhaupt,22 so doch des 19. Jahrhunderts – zugänglich gemacht zu haben.
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Footnotes
1. Wie in der Forschungsliteratur üblich verwende ich zur Bezeichnung des Autors entweder beide Nachnamen oder den ersten Nachnamen Eça.
2. Die Reliquie; Das Verbrechen des Paters Amaro; Der Mandarin; Vetter Basilio; Der Graf von Abranhos; Die Maias; Erstveröffentlichungen bei Aufbau 1951, 1954, 1954, 1957, 1958 bzw. 1983.
3. ,,A minha ambição seria pintar a Sociedade portuguesa, tal qual a fez o Constitucionalismo desde 1830 – e mostrar-lhe, como num espelho, que triste páıs eles formam – eles e elas.“ (,,Mein Ziel besteht darin, die portugiesische Gesellschaft zu zeichnen, so wie sie der Konstitutionalismus seit 1830 geformt hat – und ihr zu zeigen, wie in einem Spiegel, welch trauriges Land sie – Männer wie Frauen – darstellen.“ (Übersetzung v. mir; Brief vom 12. März 1878 an Teófilo Braga; Campos Matos 2008, 183).
4. Briefwechsel Andreas Klotsch/Anette Kind: Briefe vom 19. Juli 2013 und 14. Oktober 2013.
5. Befragung durch Anette Kind im Interview vom 6. Mai 2015.
6. Vgl. Walther 1999, 656–660. Zu Günter Caspar ist zu sagen, dass er sich erst nach jahrelangen Anwerbeversuchen und nur unter erheblichem Druck hat verpflichten lassen. Wie aus den Stasi-Unterlagen hervorgeht, hat er der Staatssicherheit auch keine relevanten, Kollegen oder Autoren belastenden Berichte abgeliefert (Walther 1999, 656 ff.).
7. Aktennotiz 23. Mai 1958; Archiv Aufbau-Verlag: SBB_IIIA_Dep38_A0197a_0077; vgl. auch Thomson-Wohlgemuth 2007, 111.
8. Archiv Aufbau-Verlag: SSB_IIIA_Dep38_A0680_0197.
9. Dies geht aus etlichen Äußerungen hervor, beispielsweise aus den Briefen, die er in seiner Eigenschaft als Konsul aus Newcastle an den portugiesischen Außenminister richtet und in denen er unmissverständlich als Lösung für die massiven Auseinandersetzungen zwischen Minenarbeitern und Minenbesitzern die gütliche, harmonische Einigung anstrebt (in: Matos, 142–147; 158 f.). Selbst in seinen aufrührerischsten und noch von Proudhon geprägten Jugendjahren vertraten Eça und seine Mitstreiter keine Revolution im eigentlichen Sinne, sondern eine durch Aufklärung, Ideen und Wissenschaft vorangetriebene Erneuerung von oben (vgl. Queirós Campanha Alegre, 72).
10. Gutachten vom 15. April 1956; Archiv Aufbau-Verlag: SSB_IIIA_Dep38_A0197a_0093.
11. 18. Juli 1955; Archiv Aufbau-Verlag: SSB_IIIA_Dep38_A0197a_0098.
12. Zitiertes Gutachten vom 15. April 1956; Archiv Aufbau-Verlag: SBB_IIIA_Dep38_ A0197a_0097. [End Page 213]
13. Dies geht aus Aktennotizen des Verlags hervor. Vgl. ,,Eça de Queiroz. Vorschlag für Werke in Einzelausgaben“, Archiv Aufbau-Verlag: SSB_IIIA_Dep38_A0197a_0007 sowie von Caspar und Voigt unterzeichnete Aktennotiz vom 23. Mai 1958, Archiv Aufbau-Verlag: SSB_IIIA_Dep38_A0197a_0077-79.
14. Auf eine Anfrage an den Verlag erklärte mir Martin Lorentz, Leiter der Abteilung Rechte und Lizenze/Inland/Auslandsabteilung des Aufbau-Verlags, dass es sich nicht um Auftragsarbeiten des Verlags handelte, sondern dass die Rechte an den Übersetzungen über Schönfelders Erben erworben wurden (Mail vom 29. Mai 2013).
15. Diesen Ausdruck verwendet Krügel beispielsweise in einem Brief vom 12. September 1958 an Verlagsleiter Voigt, in dem er darum bittet, aufgrund des Schwierigkeitsgrads der von ihm angefertigten Übersetzung des Romans von Eça de Queirós ,,A Capital“ das Honorar noch einmal zu überdenken (SBB_IIIA_Dep38_A0384_0090).
16. Die unklare Rechtslage ist Grund für die Neuübersetzung (vgl. Hausmitteilung von Verlagsleiter Voigt an Lektor Horst Schulz: Archiv Aufbau-Verlag: SSB_IIIA_Dep38_A0680_ 0009).
17. Vgl. Aktennotiz sowie Schreiben Krügels an den Verlag aus dem Jahre 1958: Archiv Aufbau Verlag: SBB_IIIA_Dep38_A0197a_0077 und SBB_IIIA_Dep 38_A0384a_0090.
18. Brief von Andreas Klotsch an Anette Kind vom 19. Juli 2013.
19. Queirós, Eça de. Basilio, ins Deutsche übertragen und frei bearbeitet von Helmut Hilzheimer, München, Wien Basel: Kurt Desch, 1956 (einmalige Lizenzausgabe für Welt im Buch).
20. Karl-Heinz Delille weist darauf hin, dass diese verkürzte, von ihm als ,,versão-resumo“ (,,Resümee-Version“) bezeichnete Fassung von Hilzheimer 1988, gemeinsam mit der Überset-zung des kleinen Romans Alves & Co. von Alrun Almeida Faria, durch den Franz Greno Verlag erneut veröffentlicht wurde, und zwar auf ausdrückliche Empfehlung seines literarischen Beraters Hans Magnus Enzensberger (http://www.zeit.de/1987/30/ikarus-gelandet), was in deutschen Feuilletons einen Sturm der Empörung seitens der Kritiker auslöste, die diese Ausgabe mit den Worten kommentierten, Eça de Queirós sei in einer ,,zweifelhaften Ausgabe“ erschienen und somit ,,unter die Barbaren geraten“ (Delille 2011, 18; 20 f.).
21. Queirós, Eça de. Der Mandarin, übers. von Hermann Baltzer, München: Duncker Verlag, 1954.