
„Alle Frauen sind hier größer als die Männer". Klaus Maria Brandauers Verfilmung von Mario und der Zauberer vor dem Hintergrund der gendertheoretisch informierten Thomas Mann-Forschung
The film adaptation of Mario and the Magician, produced shortly after German reunification, exhibits a consistent series of changes to, and extensions of, Thomas Mann's novella. These can be understood as very much a part and expression of their time, especially with regard to the momentum then gathering in gender discourse, which had begun to yield concrete legal results. In light of their respective gender mentalities, the time of the film's realization has something significant in common with the conditions under which Mann wrote his novella and which he addressed therein. Recent research has specifically drawn attention to Mann's use of Johann Jakob Bachofen's cultural theory, a connection of which the filmmakers cannot have been aware. The film's open and repeated staging of female power and male weakness is thus all the more noteworthy. It intuitively reveals aspects that specialized scholarship only subsequently uncovered by means of archival research. (YE; in German)
Mario und der Zauberer weist zu Film und Kino in gewisser Hinsicht eine höhere Affinität auf als alle anderen Erzählungen und Romane Thomas Manns zusammengenommen, einschließlich des Zauberbergs. Denn der entscheidende Teil der Novellenhandlung spielt in einem sonst zu „Cinema-Vorführungen" genutzten Raum (Mann, Erzählungen 671). Dennoch ist es ausgerechnet dieses Erzählwerk des Autors, das als bisher letztes einer deutschsprachigen Erstverfilmung gewürdigt wurde. Zuvor hatten Luchino Visconti, Bernhard Wicki, Ingmar Bergmann und Peter Zadek sich endlich doch nicht daran gewagt. Nachdem Golo Mann die Novelle schon Ende der Achtzigerjahre dem Fernsehen der DDR anstelle des Kleinen Herrn Friedemann vergeblich anzudienen versucht hatte (Mann, „Brief"), hat Klaus Maria Brandauer erst Anfang der Neunzigerjahre „Thomas Mann's [sic!] MARIO UND DER ZAUBERER aus dem Exil zurückgeholt". Er tat es im Bewußtsein, „daß wieder einmal die Zeit reif ist für einen Stoff, der sechzig Jahre lang nichts von seiner humanen Geisteshaltung eingebüßt hat, der heute und morgen seine Berechtigung hat, neu erlebt zu werden." (Weinshanker und Brandauer 3)
Schon die anmaßliche Leichtfertigkeit der wichtigtuerischen Geste, Manns Novelle aus dem Exil heimgebracht zu haben, kann einem zu denken geben in ihrer völlig irrläufigen Anspielung auf die Emigration des Autors und mit der Suggestion des Verdiensts, etwas von ihm „zurückgeholt" zu haben; ein, wenn man so will, kulturimperialistischer Anspruch, den der Film dann leider nur allzu deutlich einlöst. Symptomatisch für seine achtlose Aneignung oder Anverwandlung des Andern und Fremden ist schon nur die konsequent falsche, nämlich deutsch-germanische Betonung eines prominenten Figurennamens, des Namens Cipolla oder eben ‚Cípolla'.
Man käme wirklich an kein Ende, wenn man alles und jedes auflisten wollte, was Brandauer abzuändern und zusammenzuphantasieren sich erlaubte, um uns den Stoff ‚neu erleben' zu lassen. Und es wäre sehr leicht, [End Page 28] aber auch ein wenig billig, die Verfehltheiten einer vielleicht ohnedies unrettbaren Verfilmung im Einzelnen aufzuzählen. Anstatt nochmals ins Horn ihrer mehrheitlich abfälligen Kritiken zu stoßen (Anonymus; Buchka; Kilb; Koebner; Nicodemus; Schenk; Schmidt-Mühlisch; Wienert), kann man auch versuchen, dem Film sein Gutes oder wenigstens sein gut Gemeintes abzugewinnen. Zu diesem Zweck könnte man ihn wiederum mit Brandauers Selbstkommentaren abgleichen. „Es müssen", so Brandauer,
Ähnlichkeiten, heutige Varianten des Themas, in der Luft liegen, sonst interessieren wir uns nicht dafür [ . . . ]. Das heißt, es muß eine gewisse Respektlosigkeit [ . . . ] und ein gewisser Mut eintreten, daß man das interpretieren möchte, was man herausgelesen hat.
Konkret gefragt: Haben die Respektlosigkeiten gegenüber dem in der Novelle Vorgegebenen System und Methode? Lassen sie sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Und wenn ja: Auf welchen? Wie verhält sich dieser gegebenenfalls zum „Mut" und Ehrgeiz, den Stoff zu aktualisieren, ein Publikum von heute für ihn zu interessieren und ihm „Varianten des Themas" abzugewinnen, die seinerzeit „in der Luft" lagen? Und in welchem Verhältnis endlich stehen die Antworten auf diese Fragen zur Rezeptionsgeschichte der Novelle, insbesondere zum Forschungsstand, dem damaligen sowohl wie dem heutigen?
Um das Pferd von hinten aufzuzäumen und mit dem Ende des Films zu beginnen, weil dieses sich ganz besonders drastisch über den Novellentext hinwegsetzt: Noch in der letzten, „[ü]berarbeitete[n] Fassung" des Drehbuchs „nach der gleichnamigen Novelle von Thomas Mann" (Weinshanker und Brandauer [Titelblatt]), datierend vom „25. Juli 1992," verläuft das Ende zwar wie in dieser Novelle und zu einem großen Teil sogar mit denselben Worten wie dort. Denn die betreffenden Regieanweisungen lauten, in synoptischer Gegenüberstellung mit dem Novellentext: [End Page 29] Die zunächst noch restlose Werktreue wurde im Film von 1994 aber endlich eben doch preisgegeben. Das Ende der Handlung ist hier von Grund auf umgestaltet oder, wie die Kritik fand, „unverzeihlich" (Wienert) und „barbarisch entstellt[]" (Kilb). Im Film hypnotisiert Cipolla nicht mehr nur Mario, sondern zugleich auch Silvestra. Er versucht die beiden dazu zu zwingen, sich zu küssen. Das Mädchen oder die Frau schafft es im letzten Moment, mit einem energischen „Nein!" zu widerstehen (Mario und der Zauberer 01:48:30). Danach bringt Cipolla sie aber dazu, ihn selber, Cipolla, als den zu küssen, den sie allein und wie keinen andern begehre. So gedemütigt, versucht Silvestra den Zauberer zu erschießen. Man fällt ihr in den Arm. Die Kugel trifft und tötet–Mario.
CIPOLLA läßt die Reitpeitsche pfeifen und MARIO erwacht aus seinem Gefühl. Er starrt auf CIPOLLA, schlägt sich mit den Händen in das Gesicht. | Zugleich aber [ . . . ] ließ der oben Geliebkoste unten, neben dem Stuhlbein, die Reitpeitsche pfeifen, und Mario, geweckt, fuhr auf und zurück. Er stand und starrte, hintübergebogenen Leibes, drückte die Hände an seine mißbrauchten Lippen, eine über der anderen, schlug sich dann mit den Knöcheln beider mehrmals gegen die Schläfen, machte kehrt und stürzte, während der Saal applaudierte und Cipolla, die Hände im Schoss gefaltet, mit den Schultern lachte, die Stufen hinunter. Unten, in voller Fahrt, warf er sich mit auseinandergerissenen Beinen herum, schleuderte den Arm empor, und zwei flach schmetternde Detonationen durchschlugen Beifall und Gelächter. [ . . . ] Cipolla stand da [ . . . ] mit abwehrend seitwärtsgestreckten Armen [ . . . ] und fiel [ . . . ] zu Boden [ . . . ]. (Mann, Erzählungen 710f.) |
Aus dem Zelt dringt Applaus und Gelächter. CIPOLLA lacht. | |
MARIO wirbelt herum, reißt die Pistole vom Tischchen und zwei schmetternde Detonationen durchschlagen Beifall und Gelächter. Lautlosigkeit verbreitet sich. CIPOLLA steht mit abwehrenden, von sich gestreckten Armen da und fällt vornüber zu Boden. |
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MARIO blickt mit leerem Blick, die Pistole noch in der Hand auf den vor ihm reglos liegenden CIPOLLA. (Weinshanker und Brandauer 171) |
Die völlig neue Wendung, die die Handlung jetzt nimmt, verdient umso mehr Beachtung, als dieser radikale Bruch mit der Vorlage ja erst in allerletzter Minute erfolgt sein muss, nachdem der Film im Drehbuch wie gesehen noch dasselbe Ende hätte nehmen sollen wie die Novelle und dort beinahe mit denselben Worten notiert war wie in dieser. Die also späte und sehr massive Abweichung von ihr zu erklären fällt so schwer nicht. Die Novelle, zu einer Zeit geschrieben, da man noch nicht absehen konnte, welche Zukunft der Faschismus auch außerhalb Italiens haben sollte, nimmt trotz allem noch „ein befreiendes Ende" (711). Getötet wird mit Cipolla die Inkarnation all dessen, was am faschistischen Italien so schrecklich zu beängstigen vermag. Die Macht dieses Bösen wird endlich doch gebrochen. Ganz anders im Film. ‚Cípolla' überlebt. Er lässt sich selbst noch vor Marios Leiche von der Menge bejubeln. Die Gefahr, die von ihm und von dem ausgeht, was er personifiziert, bleibt ungebannt; eine Umdeutung, die selbstverständlich jenem „Bewußtsein" geschuldet ist, „daß wieder einmal die Zeit reif" sei, und mit der sich Brandauer übrigens in bester Gesellschaft befindet. Denn schon 1956, in Viscontis Sprechballet oder ‚choreographischem Drama' Mario e il Mago, hielt Cipolla selbst als Toter noch den hypnotisierten Mario in seinem Bann.
Statt auf die ganz offensichtliche Botschaft des Films, die nicht weiter erläuterungsbedürftige Warnung seines Endes, soll das Augenmerk nun aber auf eine dramaturgische Voraussetzung desselben gelenkt werden, genauer [End Page 30] gesagt auf deren Gendering. Es ist ja, anders als in der Novelle oder noch bei Visconti, eine Frau, die das Ende herbeiführt. Herbei führt sie es, indem sie sich erst aus dem hypnotischen Zwang des Zauberers befreit und dann das männliche Gewaltmonopol bricht. Darin kulminiert eine lange, eng geschlossene Reihung eines und desselben Motivs, die vielleicht deswegen übersehen blieb, weil man sich zu sehr auf den Hauptdarsteller und dessen vermeintliche „One-man-Show" kaprizierte (Dittmann 52). Die Reihenbildung entsteht aus konsequenten Überhöhungen der Frauen auf der einen Seite und ebenso konsequenten Erniedrigungen, Schwächungen oder ‚Kastrationen' der Männer auf der anderen.
Die entsprechenden Abweichungen von den Vorgaben der Novelle und die dadurch freigewordenen „Varianten des Themas" kommunizieren zunächst natürlich mit einem bestimmten Zeitgeist oder mit dem, was damals „in der Luft" lag. 1994, als der Film anlief, wurde beispielsweise das Gleichberechtigungsgebot der nun gesamtdeutschen Verfassung dahingehend ergänzt, dass der Staat die Gleichstellung von Mann und Frau tatsächlich durchzusetzen und bestehende Benachteiligungen zu beseitigen habe; was dann im selben Jahr auf Gesetzesebene konkret verwirklicht wurde im sogenannten Zweiten Gleichberechtigungsgesetz.
Nun soll es doch wie gesagt nicht darum gehen, den Film hier schlechter zu machen, als er ohnehin schon ist. Statt ihm nachzuweisen, dass er mit den betreffenden Erweiterungen seinen eigenen Zeitgeist in die verfilmte Handlung einfach nur hineinträgt, kann man auch danach fragen, warum solche Verschleppungen hier überhaupt möglich wurden, warum sie sich angeboten zu haben scheinen oder ob, anders gefragt, die Entstehungszeit der Verfilmung besonders geeignet war, Brandauer et alios aufmerksam werden zu lassen auf eine bis dahin verschüttete Sinnschicht des verfilmten Texts selbst; dergestalt, dass das, was daraus „herausgelesen" wurde, tatsächlich auch drinsteht und bloß der Entdeckung harrte. So, eben diskursgeschichtlich befragt, enthielten die genderspezifischen Ummodelungen der Novelle das Angebot, deren Text anders zu verstehen oder sogar besser als die zeitgenössische Literaturwissenschaft. Diese hatte zum Beispiel noch nicht einmal eine überzeugende Antwort auf die Frage parat, warum der Ort, an dem die Novellenhandlung spielt, ausgerechnet Torre di Venere heißt; ein Name, den, um so viel vorwegzunehmen, der Film sehr wohl auf- und ernstnimmt.
Für die Stichhaltigkeit eines Versuchs, die Novelle und ihre Verfilmung diskursanalytisch miteinander zu konfrontieren, sprechen allein schon die Umstände, unter denen Thomas Mann diese Novelle schrieb. Denn mentalitätsgeschichtlich weisen diese Umstände in puncto Sex und Gender eine gewisse Affinität zu der Zeit der Verfilmung auf. Schon in der Zwischenkriegszeit war ja bekanntlich eine nicht unerhebliche Bewegung in den Geschlechterdiskurs geraten. Diese ging auch an Thomas Mann nicht spurlos vorbei. Ganz im Gegenteil. Es wäre nicht zu gewagt zu behaupten, dass sein [End Page 31] gesamtes Erzählwerk seit dem Ende des Ersten Weltkriegs mit dazu diente, die Irritationen und Weiterungen zu bewältigen, die sie mit sich brachte. Und zwar lief ihre Bewältigung seit Mitte der Zwanzigerjahre über die Rezeption eines Corpus, das, wie allerdings erst in der jüngsten Forschung zur Ideengeschichte der deutschen Zwischenkriegszeit deutlich zu werden anfängt, zu dieser Zeit eine nie zuvor und hernach nie wieder dagewesene Renaissance erlebte (Boss, Männlichkeit 79–103; Boss, „Bachofensche Vision"; Elsaghe, Krankheit und Matriarchat 5f.; Davies 311–349; Heiniger; Mahlmann-Bauer; Nowotny; Reidy; Schößler).
Johann Jakob Bachofen, dessen Kulturstufentheorie Thomas Mann eben erst zu studieren begonnen hatte, als ihm und den Seinen das in der Novelle bearbeitete „Reiseerlebnis" widerfuhr (Mann, Reden 139), glaubte, ebenfalls in Italien, auf einen inneren Zusammenhang zwischen der römischen Totenverehrung und dem antiken beziehungsweise vorantiken Mutterkult gestoßen zu sein. Von hier aus begann er damit zu spekulieren, dass dem abendländischen Patriarchat andere Kulturalisationen der Geschlechterdifferenz vorausgegangen sein mussten, wie sie sich zumal im Orient länger zu halten vermochten: erst der Hetärismus, ein Zustand totaler Promiskuität und absoluter Gleichheit; dann das Mutterrecht, in dem die monogame Ehe von der Frau durchgesetzt wurde und die Identität der Kinder naheliegenderweise über ihen gebärenden Körper definiert blieb, bevor sich dann endlich unter dem Vaterrecht der sehr viel abstraktere Begriff der Vaterschaft oder ‚Paternität' etablierte, ohne den kein Patriarchat auch nur denkbar wäre.
Die Reihenfolge dieser drei Stufen verstand Bachofen als eine Fortschrittsbewegung vom weniger Guten zum immer Besseren. Dabei machte er allerdings zwei Einschränkungen. Zum einen sah er die Möglichkeit von so genannten Rückschlägen vor (an den von Thomas Mann angestrichenen Stellen insbesondere im Zeichen des Dionysos [Bachofen, Mythus 37; Urreligion 100], den man in der Forschungsliteratur for all it's worth auch schon zu Cipollas Alkoholkonsum in Bezug gesetzt hat [Müller-Salget 61]). Zum andern, und das ist vermutlich bezeichnend für einen Kippmoment zwischen traditionellen und modernen Geschichtskonzeptionen, ging Bachofen von einem zyklischen Modell aus; so dass also am Ende der geschichtlichen Entwicklung alles da capo ins chaos antiquum zurückfiele.
Die Motive, die Bachofen von einem planen Fortschrittsoptimismus Abstand halten ließen, sind leicht zu benennen. Dieser Abstand war eine notwendige Konsequenz der reaktionären Implikationen, die seine Theorie immer schon hatte. Bachofen nämlich assoziierte die von ihm postulierten Zivilisationsstufen, vermutlich nach dem Vorbild des hellenistischen Historikers Polybios (Bachofen, Mutterrecht 450, 500, 745–48, 764, 769, 779f., 782, 789, 856, 859, 984; Gräbersymbolik 18), mit bestimmten Verfassungstypen. Das Vaterrecht ordnete er zum Beispiel dem Kaisertum zu, den Hetärismus, [End Page 32] als Gleichheit aller, der Demokratie. (Noch gar nicht scheint er im Übrigen den Sozialismus wahroder ernstgenommen zu haben, der seine Theoreme bald einmal dankbar aufgriff: August Bebel in den späteren Auflagen von Die Frau und der Sozialismus [Davies 61], zuvor Carl Kautsky [Hetärismus; Raubehe; Kaufehe] oder auch Paul Lafargue [Mutterrecht; Hochzeits-Lieder] in diversen Aufsätzen und vor allem natürlich Friedrich Engels im Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats [39, 46–48, 54–57, 60, 82], gestützt auf Notizen und Exzerpte von Karl Marx [7, 13, 25, 27f., 44, 58, 78f., 116f., 235–238, 314, 323, 339, 341, 425], der, fast aufs Jahr gleich alt wie Bachofen, mit diesem in denselben Berliner Vorlesungen gesessen haben muss [Gossman 160].)
Auch wenn Bachofen im Basel seiner Zeit Sozialismus, Kommunismus oder Feminismus vielleicht noch komplett oder doch weitgehend ignorieren konnte–immerhin korrespondierte er mit dem französischen Anarchisten Elie Reclus (Bachofen, Briefe 496f., 503f.) –, wurde er zum Zeitzeugen gewisser Demokratisierungsschübe wie der Gründung des schweizerischen Bundesstaats von 1848 oder der Verfassungsrevision von 1874, in deren Gefolge sich denn auch in der Schweiz eine Frauenbewegung organisierte. Insofern konnte er selber unmöglich an einem einsinnig-linearen Fortschrittskonzept festhalten. Der Prinzipat der Patriarchen und Patrizier schien offensichtlich nicht das letzte Wort der Geschichte zu sein.
Genau diese fatalistisch-resignative Volte nun aber war es, was Bachofen seinerzeit, während der Weimarer Republik, für Thomas Mann und seinesgleichen so leicht anschließbar machte. Anschlussfähig und aktuell wurde Bachofen unversehens dort, wo es darum ging, die diversen Phänomene einer verstörenden Gegenwart wenigstens intellektuell zu verarbeiten. Dazu gehörten beispielshalber das Frauenstimm- und- wahlrecht, aber eben auch Massenbewegungen wie der Faschismus.
Vor diesem Hintergrund lässt sich Mario und der Zauberer jetzt neu und anders lesen (Elsaghe, „Principe[ssa] X."). Das darin Erzählte lässt sich verstehen als eine kollektive Regression auf einen vorpatriarchalen Zustand: Daher das „Cinema" als ein Raum egalitärer Standeslosigkeit, wo denn auch „keine Logen vorhanden" sind (Mann, Erzählungen 672); daher der Name des Orts, der die Göttin des Hetärismus im Schild führt, Venus; daher auch die Personennamen, die fast alle aus dem Decamerone stammen, und zwar aus Geschichten, in denen Männer besonders erbärmliche Figuren machen, Typus „Angiolieri" (Mann, Erzählungen 693, 699f.), und von Frauen übervorteilt werden, Typus „Sofronia" (699); daher die Orientalisierung des ‚byzantistischen‛ (662) Orts, seiner sich „nubisch[]" gerierenden Bewohner (683) und selbst des „afrikanisch[en]" Wetters (664); und daher die Macht einer Hotelpotentatin, der Principessa X., die es im Vollgefühl ihres Muttertums und aus Sorge um ihre Kleinen schafft, eine deutsche Familie aus dem Grandhotel [End Page 33] zu vertreiben mit dem irrationalen, volksmedizinischen Argument (Hennig 277), dass Keuchhusten akustisch ansteckend sei–ein Akt schreienden Un-, aber auch praktizierten Mutterrechts.
Von alledem, weil Resultat erst der jüngsten Forschung, können Brandauer und seine Entourage zugegebenermaßen noch gar nichts gewusst haben. Dennoch kann man die Eigenarten des Films und zumal seines Endes versuchsweise eben doch einmal vor diesem neusten Interpretationshorizont betrachten. Nur darf das halt nicht im Sinn der positivistischen, gerade unter Thomas Mann-Forschern nach wie vor sehr beliebten Einflussstudien, sondern muss es auf der Basis einer diskursgeschichtlich informierten Rekontextualisierung geschehen.
Die filmdramaturgische Voraussetzung des eigenwilligen Endes, das ihr buchstäblich in die Hand gelegt ist, besteht in den Modi- und Amplifikationen der Silvestra-Figur. Während sie in der Novelle ja erst ganz zuletzt erwähnt wird und nie in den Blick des Erzählers kommt, tritt Silvestra bereits in der ersten Viertelstunde des gut zweistündigen Films in persona auf. Schon bei diesem ersten Auftritt erscheint die also ziemlich bald eingeführte Figur mit einer Feuerwaffe in der Hand. Sie gibt nämlich den Startschuss für ein Kellnerwettrennen ab.
Meistens in weißen Kleidern oder dann im wieder weißen Tennisdress oder auch ganz nackt, wird sie schon im Drehbuch mit Vesta und den Vestalinnen verglichen (54); ein einigermaßen abgelegener Vergleich, der die Figur offenbar mit einer mythischen Aura umgeben soll. Direkt oder mittelbar angeregt war er möglicherweise durch Ernest Bornemans Bestseller, Das Patriarchat, der hier seinerseits deutlich von Bachofen inspiriert ist (Bachofen, Mutterrecht 375; Gräbersymbolik 125). Bei Borneman erscheinen der „Mutterkult[]" der „Feuergöttin" Vesta und ihre Priesterinnen, die das „heilige Feuer" dieser „Staatsgottheit" hüteten, als Beweis dafür, dass „zumindest eine Gruppe römischer Frauen den vorpatriarchalischen Status der Frau aufrecht" zu erhalten vermochte (Borneman 485). Die „Macht der Obervestalin" ist für Borneman „das Bindeglied zwischen der Mutterreligion des alten Matriarchats und der weltlichen Emanzipation der Frau" (485).
Wie dem aber auch sei und woher sonst die Vergleiche der Silvestra mit Vesta und den Vestalinnen herkommen mochten–vielleicht ja auch nur aus einer phonetischen Assoziation ihres Namens, „Silvestra" –: In wenigstens einer Hinsicht sind diese Vergleiche sehr befremdlich. Denn von der Keuschheit einer Vestalin scheint Silvestra nicht viel zu haben. So zieht sie sich auf offener Straße um und aus. Einmal versucht sie, wieder splitternackt, ganz offenkundig einen deutschen Familienvater zu verführen, das Pendant des in der Novelle namenlosen Erzählers, einen gewissen Bernhard Fuhrmann, dessen eheliches Liebesleben übrigens vom italienischen Hotelpersonal mehrfach gestört wird. [End Page 34]
Aber auch auf der anderen, der weiblichen Seite ist die Ehe der Fuhrmanns gefährdet. Der ‚Cípolla' des Films nämlich, der seinerseits schon viel früher als in der Novelle, man kann schlecht sagen: auftritt–er erscheint bald einmal und dann wiederholt auf einem explosiv knatternden Beifahrermotorrad –, dieser ‚Cípolla' stellt der Frau des deutschen paterfamilias nach. Die Frau, Rachel Fuhrmann, kann ihm offensichtlich nur mit Mühe widerstehen, so dass die Institution der monogamen Ehe eben von beiden Seiten her bedroht wird.
Die Anfechtung der weiblichen Gattentreue ist dabei ausgerechnet an der Stelle situiert, die dem Ort der Handlung seinen hier anzüglich zum Sprechen gebrachten Namen gegeben haben soll, Torre di Venere. Denn genau dort, wo der eponyme Turm der Venus angeblich einmal stand, überrascht ‚Cípolla' die deutsche Ehefrau:
Cipolla:Waren sie schon einmal während eines Sturmes hier?
RACHEL:Ah!
Cipolla:Es ist überwältigend! Leidenschaftlich vermählen sich Wasser und Luft . . . Ich hab' Sie erschreckt? Ich bitte um Verzeihung! Ich komme oft hierher. Aber Sie möchten vielleicht lieber allein hier sein?
RACHEL:Ich glaubte nur, hier oben sei niemand . . .
CIPOLLA:Ja, ich verstehe. Man hat mir erzählt, dass hier früher einmal der Turm der Venus gestanden hat.
RACHEL:Ja, das sagte mein Mann mir, als wir zum ersten Mal hier oben waren.
CIPOLLA:Der gebildete, geachtete Professor . . . Was hat er Ihnen vom Turm erzählt?
RACHEL:Nur, dass er hier oben gestanden hat.
CIPOLLA:Tja, viel mehr gibt's darüber auch nicht zu sagen . . . Er war nicht so eindrucksvoll wie der Kölner Dom, nicht so berühmt wie der Eiffelturm, nicht so geheimnisumwoben wie der Turm in Pisa. Ein bescheidener Turm. Aber nichtsdestoweniger ein Monument zu Ehren der Venus.
RACHEL:Meine Kinder machen eine Bootstour.
CIPOLLA:Es passiert ihnen nichts! Haben Sie sich in Torre di Venere bisher wohlgefühlt? Hat der berühmte professore auch von dem Mann der Venus gesprochen?
RACHEL:Nein.
CIPOLLA:Interessiert Sie das?
RACHEL:Ja.
CIPOLLA:Sein Name war Vulcanus. Im Kreise der bewundernswerten, makellos bewundernswerten Unsterblichen war er als einziger hässlich. Und auf einem Bein hinkte er. In seiner . . . In seiner Werkstatt gab es Dienerinnen und Mägde, die er selbst aus Gold geschmiedet hatte. Ha! Vulcanus war der Gott des Feuers. Besonders in seinem zerstörerischen Element. Und was seine Frau betrifft, die [End Page 35] verehrte Göttin der Liebe . . . Sie war eine Hure!
(Mario und der Zauberer 1:14:02–1:16:27)
Auch in diesem Dialog also, wie schon bei jenem Vergleich der Silvestra mit Vesta oder Vesta-Priesterinnen, wird die römische Religion aufgeboten. Es beginnt mit ‚Cípollas' Stichelei gegen den abwesenden Ehemann, der seiner Frau nichts vom „Mann der Venus" erzählt hat. Und es endet damit, dass er, ‚Cípolla', Venus verächtlich macht, „eine Hure!"
Die Anspielung auf den homerischen Schwank vom Ehebruch des Ares und der Aphrodite gibt wiederum etwas von einer mythischen Identität auch ‚Cípollas' zu erkennen. Nicht umsonst hinkt dieser hier ein wenig; oder immerhin geht er auffallend ungelenk, während er doch in der Novelle im „Geschwindschritt" auftritt (674). Die Abschätzigkeit und Aggressivität seiner mythologischen Reminiszenz verraten seine Selbstidentifikation mit dem einen, ausnahmsweise hässlichen, seinerseits hinkenden Gott, den seine Gattin auf so demütigende Weise mit Ares betrog; eine mythische Identität, wie sie bei Thomas Mann zugegebenermaßen durchaus vorkommen könnte. Man denke nur an seine diversen Unterweltsgestalten (Charon, Rhadamanthys [Elsaghe, Krankheit und Matriarchat 60, 179]), an Hermes-Figuren wie Tadzio (Dierks 43, 236f.; Reed 162) oder Felix Krull (Elsaghe, Imaginäre Nation 220, 257f.), an die amorhaften Züge eines Rudi Schwerdtfeger (Elsaghe, Thomas Mann und die kleinen Unterschiede 65–77) oder Ken Keaton (Elsaghe, Krankheit und Matriarchat 175–81), an die Anspielungen auf Psyche in den Josephsromanen (Dierks 204) oder in der Betrogenen (Elsaghe, Krankheit und Matriarchat 175–87). Aber für eine solche mythologische Unterlegung auch des Zauberers Cipolla–geschweige denn der Silvestra–fände man im Text der Mario-Novelle dennoch keine, aber auch wirklich gar keine Hinweise.
Die mythische Identität des Zauberers, die also völlig frei, wenn eben auch ganz im Sinne Thomas Manns erfunden ist, wird in einer dicht bestückten Motivebene entfaltet, die dem Film eigens eingezogen wurde, deren Elemente also samt und sonders hinzuphantasiert sind, ohne dass es im Novellentext einen Anhaltspunkt dafür gäbe. Deren wichtigstes ist ein Element in dem Spezialsinn, in dem der Zauberer das Wort verwendet, als er die deutsche Touristin ja eigens darüber belehrt, welches besonders gefährliche „Element" dem Gott der Schmiede zugeordnet ist: „Vulcanus war der Gott des Feuers."
Einmal abgesehen davon, dass Feuer und Flamme ja auch in Silvestras Vergleich mit Vesta und den Vestalinnen schon impliziert sind: Am Anfang des Films steigt der Rauch einer Eisenbahn auf. Nachdem es indexikalisch somit von Anfang an eingespielt ist, erscheint das „Element" dann in ähnlicher Weise mittelbar wieder: im laut dröhnenden Verbrennungsmotor des Vehikels, das der Zauberer und seine Adlaten fahren; und in gänzlich unverstellter Form endlich bei ‚Cípollas' eigentlichen Auftritten. Deren erster freilich, gegen den Novellentext und übrigens in dieser, sozusagen pyrophilen [End Page 36] Form auch gegen das Drehbuch eingeführt, ist im genauen Sinn des Worts neuerlich doch auch wieder kein wirklicher ‚Auftritt'. Denn ‚Cípolla' sitzt erst auf einer Bockleiter, von der er dann zum Gespött der Beisteher herunterrutscht. Dabei aber ist er von etlichen brennenden Fackeln umgeben.
Bei seiner letzten Vorstellung wiederum leuchtet die Bühne von einem wahren Kerzenmeer. Diese Vorstellung, als einzige in der Novelle vorgegeben, wurde bei der Umsetzung des Drehbuchs ihrerseits stark verändert, nicht nur was ihren Schluss betrifft. Und zwar wurde sie wieder so modifiziert, dass sich das Feuermotiv darin gleichsam weiter und weiter ausbreitet. Anders nämlich als in Novelle und Drehbuch und entgegen dem kritischen Verdikt von der „One-man-Show" bestreitet ‚Cípolla' seine Vorführung nicht mehr allein. Hinzu kommt erst seine Assistentin, eine Scharfschützin mit zwei ‚Faustfeuerwaffen'–„eine feurige Schönheit" (Weinshanker und Brandauer 15), steht im Rollenverzeichnis des Drehbuchs. Dann aber folgt der Auftritt eines–Feuerspeiers. Dessen Nummer kündigt der Zauberer wiederum mit einer, wenn auch vagen mythologischen Referenz an: „Feuer war ein Geschenk der Götter. Und heute Abend werden wir es Ihnen schenken" (womit sich ‚Cípolla' einmal mehr auf die Position einer antiken Gottheit stellt) (Mario und der Zauberer 1:40:53).
Das hinzuerfundene Motiv des potentiell immer „zerstörerischen" Feuers, indem es wieder und wieder mit ‚Cípolla' und seiner Entourage assoziiert wird, steht auch für das, was der Zauberer als politische Allegorie personifiziert. Das macht eine ihrerseits frei erfundene Sequenz besonders deutlich, in welcher der vor Ort ranghöchste Repräsentant des neuen Systems rituell installiert wird, ein Präfekt namens Angiolieri. Denn nicht von ungefähr, zum Zeichen nämlich der inneren Beziehung zwischen der allegorischen Figur des Zauberers und den tatsächlichen Vollstreckern der faschistischen Ideologie, steht auf dem Schreibtisch des Präfekten das Modell eines Motorrads, wie ‚Cípolla' und die Seinen eines benutzen. Mit diesem Modell spielt der sichtlich vertrottelte Amtsinhaber, um den deutschen Touristen mit solchem Infantilismus förmlich anzustecken; ein Detail, das selbstverständlich demselben didaktischen Zweck dient wie das jetzige Ende des Films, als Warnung vor der im Wortsinn übergriffigen Natur des faschistischen Irrsinns.
Um den Amtsantritt einer also sehr fragwürdigen Lokalautorität zeremoniell zu begehen, wird ein Feuerwerk abgebrannt. Dieses exorbitantüppige, immer wilder werdende Feuerwerk lässt den so gefeierten Präfekten dermaßen außer sich geraten, dass er darunter umhertanzt wie oder vielmehr als einer, der den Verstand vollständig verloren hat; wobei diese Verbindung des Feuers mit der faschistischen Bürokratie und des neu installierten Bürokraten mit Kontrollverlust oder Irrationalität nachweislich gesucht und gewollt ist. Denn im Drehbuch war lediglich ein sozusagen noch zweckfreies Feuerwerk vorgesehen, weder zu Ehren des Präfekten noch unter dessen Beteiligung. [End Page 37]
Gegenüber dem Novellentext nicht ebenso frei erfunden wie die ganze Motivreihe des Feuers und ihre Verbindung mit der Figur des Präfekten Angiolieri ist diese Figur selbst. In ihr sind zwei in der Novelle verschiedene Figuren zusammengelegt: einerseits, mit demselben Nachnamen, der Mann der Wirtin, bei der die deutsche Familie endlich unterkommt; andererseits ein anonymer „höherer Beamter," bei dem die Buße für eine sittliche „Provokation" des deutschen Mädchens so bezahlt werden muss wie beim Angiolieri des Films (Mann, Erzählungen 668). In der Novelle hat der Gatte der Wirtin Angiolieri nur eben „ein sorgfältig gekleideter, stiller und kahler Mann" zu sein, der seiner Frau die Wirtschaft überlässt und dessen Funktion sich darin erschöpft, „ihr Gatte" zu sein (662); eine Funktion, die der Zauberer dann endlich noch in Zweifel zieht, als er ihm seine Frau abspenstig zu machen droht, in der Novelle nicht anders als im Film.
Im Film aber wird die Figur des Gatten noch viel tiefer herabgezogen. Ihre Unterwerfung unter die Frau ist schon im Personenverzeichnis des Drehbuchs festgehalten. Angiolieri, ebenfalls still oder „ruhig," hat dort „Mitte 30" zu sein, das heißt immerhin ein, zwei Jahrzehnte jünger als seine Frau. Deren Alter wird hier auf „Mitte 40 bis Anfang 50" veranschlagt (15). Dieser also deutlich älteren Frau „scheint" er dem Verzeichnis zufolge schlechterdings „verfallen" zu sein (15).
Ursprünglich war denn der damals noch keine Vierzig alte Ulrich Mühefür die Rolle des Angiolieri vorgesehen (Weinshanker und Brandauer 15A), dem und vermutlich auch weil ihm von der Verfilmungsgeschichte Thomas Mann'scher Texte her gewissermaßen ein hierzu genau stimmiges Konnotat eignete. Dieses rührte von jener nur wenig älteren Verfilmung der Novelle Der kleine Herr Friedemann her, an der ein Mitarbeiter Brandauers, Eberhard Görner, federführend beteiligt war. In diesem Film nun, dessen Entstehung das Ende der DDR und die deutsche Wiedervereinigung umfasste, hatte Mühe die Hauptrolle gespielt, also wieder beziehungsweise schon einen Mann, der, verkrüppelt wie Cipolla, seinerseits einer Frau hoffnungslos „verfallen" und unterlegen ist; eine angesichts der Entstehungszeit nicht wenig pikante Besetzung, die etwas von den Ängsten vor dieser Wiedervereinigung zu artikulieren scheint. Denn nicht nur war Mühe in einem unverfänglichen Sinn aufs engste mit der DDR assoziiert und insofern sehr geeignet, diese nachgerade zu repräsentieren oder zu personifizieren: Darüber hinaus war die Rolle der übermächtigen Sadistin, die das von Mühe gespielte Opfer so unbarmherzig zugrunde richtet, mit einer westdeutschen Schauspielerin besetzt; und diese, Maria von Bismarck, stammte obendrein aus einer Dynastie, deren Name mit der Geschichte und den Gewinnern nationaldeutscher Einigungsprozesse so eng verbunden ist wie kein zweiter (Elsaghe, „Fernsehen der DDR" 291).
Zuletzt freilich wurde die Rolle des Angiolieri nicht mit Ulrich Mühe, sondern mit Rolf Hoppe besetzt, der seinerseits aus der ehemaligen DDR kam. [End Page 38] Ein gutes Jahrzehnt zuvor hatte Hoppe in István Szabós Verfilmung von Klaus Manns Mephisto mitgespielt, einer west-östlichen Gemeinschaftsproduktion; und zwar spielte er neben und mit Klaus Maria Brandauer, mit dem darin die Hauptrolle des Hendrik Höfgen besetzt war. Wie die Rolle dieses Theatermanns, Blenders und Opportunisten mit der von Brandauer hernach gespielten Hauptrolle des Cipolla einiges gemeinsam hat, so trat Hoppe mithin auch in Mephisto schon als Repräsentant und Funktionsträger einer rechtsextremen Diktatur auf, als Ministerpräsident alias Hermann Göring. Insofern haftete ihm in der Rolle des Angiolieri eine in ihrer Weise einschlägige Konnotation an.
Hoppe, damals schon über sechzig Jahre alt, passte zwar weniger gut als Mühe auf den Steckbrief, den das Personenverzeichnis des Drehbuchs für die Rolle vorgab–möglicherweise immer schon in Hinblick auf die ursprünglich anvisierte Besetzung mit diesem Ulrich Mühe–; dafür aber entsprach er umso besser dem Portrait der Figur, die im Novellentext „Angiolieri" heißt. Dieser Film-Angiolieri wirkt nun wirklich alt oder ältlich. Auch ist er kahl, wie in der Novelle vorgegeben, so dass ihn seine Frau denn herablassend auf die Glatze küssen darf.
In der Novelle soll sie bekanntlich Faktotum, „ja Freundin der Duse" gewesen sein (662), einer „Herrin" (663), die der Pension ihren Namen gab und mit deren Devotionalien der Salon der Casa Eleonora ausstaffiert ist. An die Stelle dieser frauenbündischen Gefolgstreue rückt im Film ein ganz anderes Vorleben im Showbusiness der jüngsten Vergangenheit. Sofronia Angiolieri soll ein Verhältnis mit Giacomo Puccini gehabt haben. Offenbar weiß ihr Mann davon. Aber es macht ihm, wie das deutsche Touristenpaar sichtlich befremdet anerkennt, „überhaupt nichts" aus (Mario und der Zauberer 44:04). Im Gegenteil, er dirigiert ein Luftorchester zu der Musik ausgerechnet seines Rivalen, aus dem ersten Akt der Tosca; eine Melodie, die übrigens auch während einer Begegnung Silvestras und des deutschen Touristen die Hintergrundmusik abgibt.
Der Statthalter des Faschismus erscheint also in ähnlicher Weise düpiert wie die mythologische Figur, mit der sich ‚Cípolla' identifiziert. Wenn der glatzköpfige Hahnrei im Film auch noch ein hohes Amt bekleidet, dann infiziert seine Schwäche das ganze Gemeinwesen, dessen ziviler Repräsentant er ist. Aber auch die Repräsentanten der militärisch-heroischen Männlichkeit machen miserable Figuren. Beispielsweise fehlt dem Cavaliere im Film, anders als in der Novelle und noch im Drehbuch, das phallisch-martialische Attribut seiner Peitsche. Die Stelle des Ares bleibt gewissermaßen vakant. Als, man muss sagen: ehemalige Inhaber des männlichen Gewaltmonopols oder als wehmütige Erinnerungen daran kommen nur Greise und vorab nur Kriegsveteranen in den Blick. Deren einer, der in den ersten Minuten des Films zu einer Großaufnahme hochgezoomt wird, ist vom Anblick der deutschen Familie dermaßen perplex, dass ihm sein offenbar zuvor eingetunktes und eingeweichtes Brot aus dem zahnlosen Mund zurück in die Tasse fällt. [End Page 39]
Sind die Männer zahnlos und ekelhaft, kahl oder sonstwie ‚kastriert', so dass sie weder aus Waffenläufen schießen noch auch nur noch mit Peitschen knallen, so wechseln die Symbole der Macht und die Instrumente der Gewalt zu den Frauen hinüber. Das passiert bereits in der Handlung der Oper, die der immer schon gehörnte Präfekt gerade nicht dirigiert, indem er die panoptische Stelle eines Dirigenten nur eben phantasmatisch einzunehmen vermag, um dadurch seine Ohnmacht bloß desto deutlicher preiszugeben. Schon die eponyme Heldin dieser Oper ist eine ‚phallische' Frau. Mit einem Dolch penetriert Tosca bekanntlich den Körper des Manns, der sie sexuell anzugehen wagt.
Auch in der eigentlichen Handlung des Films machen solche phallischen Frauen sozusagen den Namen des Orts wahr, an dem diese Handlung spielt. Sie verkörpern leibhaftig das sexualsemantische Konnotat dieses von Thomas Mann aus der Luft gegriffenen Ortsnamens, „Torre di Venere." Bewaffnet treten im Film immer nur Figuren weiblichen Geschlechts auf. Zuerst feuert Silvestra, wie erwähnt, den Startschuss zu jenem Wettlauf der Kellner ab, die also buchstäblich nach ihrer Pfeife tanzen. Deren einen, der ausdrücklich nach einem antiken Helden benannt ist (Mann, Erzählungen 706), Marius, wird die von ihr zuletzt abgefeuerte Kugel töten. Unmittelbar zuvor, zur Eröffnung der fatal endenden Vorstellung, schießt eine Frau mit gleich zwei Waffen um sich, jene feurige Scharfschützin. Im weiteren Verlauf des Films sieht man einmal auch die tyrannische Principessa aus einem langen und schweren Lauf auf Tontauben schießen. Und wie ein Mann eigens anerkennen muss, trifft sie dabei wirklich immer: „Sie trifft wirklich immer, die Frau. Bemerkenswert!" (24:26)
Die so sinnfällig gewordene Ermächtigung der Frauen und Herrinnen zeigt sich bis in deren Rollenund Sexualverhalten. Zum sublimierten Sexualspiel des Paartanzes, wie es so in der Novelle nirgends vorkommt, geht die Initiative jeweils vom weiblichen Geschlecht aus. Die Tochter des deutschen Paars nimmt Mario das Versprechen ab, mit ihr zu tanzen. Ihren Vater fordert Silvestra zum Tanz auf, bevor sie ihn später dann offensiv zu verführen versucht. Beim Tanz der beiden wird auch deutlich, was die Tochter zuvor ausspricht: „Alle Frauen sind hier größer als die Männer." (18:29)
Mit alledem hat Brandauers „heutige" Variation „des Themas" wirklich etwas aufgegriffen oder zum Vorschein gebracht, was zur Entstehungszeit sowohl der Novelle als auch ihrer Verfilmung „in der Luft" lag. Der „Mut" und die „Respektlosigkeit" dieser Verfilmung sind oder wären besser gesagt geeignet, einen auf die gender troubles aufmerksam zu machen, die schon im Novellentext ihr Wesen und Unwesen treiben. Ein volles Jahrzehnt bevor die Forschung solchen gender troubles via Bachofen auf die Schliche kam, erschloss ihr der Film oder hätte er ihr dieses Neuland erschließen können. [End Page 40]
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