
Handbuch Gattungstheorie by Rüdiger Zymner
"Eine logisch strenge Eintheilung läßt sich nicht wohl von den verschiedenen Dichtungsarten machen, weil sehr oft die Gränzen derselben ineinander laufen, weil auch eine von der andern die Behandlungsart entlehnt, und die Theilungsglieder folglich einander nicht völlig ausschließen." Schon Johann Joachim Eschenburg (hier anzitiert, 205) dämpft die Erwartungen an eine trennscharfe systematische Gattungstheorie. Hier klingt die Goethezeit fast wie der Poststrukturalismus, sollte sich doch im späten 20. Jahrhundert die Kritik an der Kanonisierung der "Gattungstrias," welche sich auf Goethes Diktum von den "Naturformen der Dichtung" bezogen hatte, intensivieren (vgl. Gérard Genette, hier 215). Solcherart Parallelen zeigen an, dass das Verhältnis von historischen und systematischen Zugängen im Bereich der Gattungstheorie weniger Anlass zu letztgültigen Lösungen denn zu einem Differenzierungsreichtum jeweils spezifischer und für je spezifische Problemstellungen tragfähiger methodischer Zugänge bietet.
Dem von Rüdiger Zymner edierten Handbuch gelingt es, diesen Differenzierungsreichtum aufzubereiten, instruktiv darzulegen und kritisch zu bewerten. 134 Artikel von 58 Beiträgern—darunter viele der profiliertesten deutschsprachigen Anreger des Gattungsdiskurses der Gegenwart—ordnet der Herausgeber in acht Hauptkapitel. Seine vorangestellte Einführung beginnt medias in res mit der Problematisierung der Gattung "Handbuch." Ziel sei es, "ein möglichst weites Spektrum gattungstheoretischer Reflexion" (5) zu erfassen.
Das erste Hauptkapitel behandelt "Aspekte der literaturwissenschaftlichen Gattungsbestimmung." Bei aller Vielfalt der schon hier zutage tretenden differenten Positionen dürfte ein Konsens darin liegen, dass Gattungen "aus der Interaktion von Erkenntnissubjekt und -objekt resultierende Konstrukte sind" (Hempfer, hier 12, vgl. auch 123). Damit aber erfordert die Analyse von Gattungen als metareflexive Basis die Frage nach dem "Wie" des Bestimmens, Definierens, Systematisierens, Kategorisierens. Antworten hierauf bilden eine Voraussetzung für die Analyse von Bestimmungskriterien, die die Zuordnung von Texten zu Gattungen ermöglichen (also etwa [End Page 315] Faktualität/Fiktionalität, Funktion oder Selbständigkeit), welche sich im zweiten Unterabschnitt anschließt.
Das zweite Hauptkapitel befasst sich mit text-, normen-, vermittlungs-, institutionen-, medien- und literaturtheoretischen Problemkonstellationen der Gattungstheorie. Die Artikel verdeutlichen die analytischen und interpretatorischen Chancen und Risiken verschiedener Konstellationen. Während Dietmar Till der systematischen Rede von der Unvereinbarkeit von deskriptiven und präskriptiven Gattungsbegriffen die diachrone Perspektive der Übergängigkeiten hinzufügt, die den Geltungsbereich von Gattungsnormen und -analysen exakter zu beschreiben in der Lage ist (60f.), wird im Artikel Andreas Blödorns deutlich, dass die Kategorie "Geschlecht" zwar keinen systematischen Zugang bietet, wohl aber zu historischen Analysen geschlechtsbezogener Gattungsfunktionalisierungen beiträgt (65). Monika Schmitz-Emans arbeitet die Vermittlungsmöglichkeiten zwischen konventioneller Gattungstheorie und poststrukturalistischer Theoriebildung heraus (107ff.).
Das dritte Hauptkapitel behandelt Fragen der Gattungsgeschichtsschreibung. Es stammt ausschließlich von Marion Gymnich, die die Möglichkeiten der historiographischen Darstellung der "hochgradig kulturell und historisch variab[len]" (146) Gattungssystematiken thematisiert und einleuchtend sortiert.
Das vierte Hauptkapitel bietet vierzehn alphabetisch angeordnete Ansätze der poetologischen Gattungstheorie, wendet sich also analytisch den Gattungspoetiken von der Antike bis in das 21. Jahrhundert zu. In historischer Perspektive nimmt das anschließende, fünfte Kapitel zur Geschichte der poetologischen Gattungstheorie diesen Faden wieder auf. Beide Kapitel ergänzen einander im Sinne der Zusammenführung systematischer und historischer Perspektiven.
Weniger instruktiv—und damit eine Ausnahme im Handbuch—wirkt das Hauptkapitel zu Bezugssystemen von Gattungstheorien und Gattungsforschung. Hier soll eine Serie von insgesamt sechzehn Unterkapiteln den spezifischen Bezug bzw. Beitrag einzelner methodischer Zugänge oder außerliterarischer Disziplinen zur Gattungstheorie darlegen. Die Artikel lösen indes leider nicht ein, was sie hätten leisten können. Denn zunächst wird im Schnitt etwa eine Spalte lang erklärt, was Diskursanalyse, Strukturalismus, Gesellschaftswissenschaften oder Naturwissenschaften seien—die "Explikation" beinhaltet solche Erkenntnisse wie diejenige, dass zu den Naturwissenschaften "akademische Disziplinen wie Physik, Biologie, Geowissenschaften oder Chemie" zählen (243)—, um dann zweitens in ähnlichem Umfang deren allgemeine Bezüge zur Literaturwissenschaft bzw. "Bezugstheorien" zu verdeutlichen. Der genuine Beitrag der jeweiligen Zugänge zur Gattungstheorie bleibt hingegen auf wenige Zeilen beschränkt. Dabei hätte doch dieses Kapitel die Chance geboten, die in anderen Artikeln diskutierten kritischen wie konstruktiven Beiträge unterschiedlicher Theoriestränge gebündelt zu diskutieren, also etwa den Beitrag des Poststrukturalismus (der als eigenes Stichwort an dieser Stelle fehlt; er wird im systematischen Kapitel zu Ansätzen der Gattungstheorie behandelt [185-187]).
Das siebente Hauptkapitel bietet Einführungen in die disziplinäre Gattungsforschung sechzehn verschiedener Fächer. Zurecht betont der Artikel zur Anglistik/Amerikanistik, dass die Differenzen zu anderen Philologien als "Akzentverschiebungen" (253) verstanden werden können, die auf je spezifische disziplinäre Traditionen zurückzuführen sind. Sichtbar werden die produktive Rolle des Theorietransfers zwischen Nachbardisziplinen, aber auch die Folgen seines Fehlens für die fachspezifische [End Page 316] Gattungsforschung. Die Geschichtswissenschaft etwa führt, Stefan Pätzold zufolge, die Gattungsdebatte auf der Grundlage ihrer Hilfsdisziplinen Diplomatik und Quellenkritik mit dem Ziel, "Schriftstücke [ . . . ] systematisch einzuordnen und so eindeutig zu klassifizieren" (262)—ein Unterfangen, das die Philologien im späten 20. Jahrhundert in der Regel nicht mehr vorrangig verfolgen. Die differente Relevanz der Gattungsfragen in verschiedenen Disziplinen führt zu unterschiedlich akzentuiertem Theoriedesign.
Das abschließende Hauptkapitel behandelt Theorien generischer Gruppen und Schreibweisen. Dargestellt werden jeweils kenntnisreich und prägnant Theorien der Epik, Faktographischen Literatur, Kunstprosa, des Komischen, der Lyrik, des Narrativen, Satirischen, der Theaterliteratur sowie des Tragischen.
Unschätzbarer Vorteil des Bandes ist es, dass er den mit der Gattungswahl "Handbuch" implizit vorausgesetzten Anspruch, handhabbar-abrufbares Wissen über Gattungstheorie zu bieten, erfüllt und zugleich unterläuft. Das Handbuch präsentiert auf der Grundlage informierter Artikel und einer durchdachten (und eben deshalb nicht überschneidungsfreien) Systematik die Vielfalt methodischer Zugänge und Lösungsansätze zu unterschiedlichen Ebenen der Gattungsproblematik. So werden Möglichkeiten und Grenzen verschiedener Systematisierungen und Klassifizierungen ausgelotet: Zu Harald Frickes Unterscheidung zwischen dem systematischen Konzept der "Textsorte" und dem historischen des "Genres" (20) kennt das Handbuch auch alternative Kategorisierungsoptionen, so etwa die Fluderniks zwischen "Macro-Genre" und "Genre" und auch die im Handbuch oft wiederkehrende Differenzierung Hempfers von "Gattung" und "Schreibweise" (21). Dass das Handbuch Forschungsdebatten in actu vorführt, ist eine seiner Stärken: Sieht Ralph Müller mit der Einsicht in die Konstruiertheit von Gattungsbegriffen eine "gemäßigt 'nominalistische' Ansicht durchgesetzt" (22), erkennt Ralf Klausnitzer den Vorteil nominalistischer Positionen sensu Benedetto Croce darin, dass sie die Vertreter einer konstruktiven Gattungstheorie stärkerem "Begründungsdruck" aussetzten, um ihre Positionen von der intuitionistischen Ontologie zu differenzieren (161). Das Handbuch bietet eine reflektierte Aufbereitung eines Diskussionsstandes, ohne die Debatten zur eindeutigen Lösung einzuschränken.
Nichtsdestoweniger hätte man sich gelegentlich noch stärkere Rückkopplungen zwischen den historischen Analysen und den theoretischen Artikeln wünschen können. Zum Beispiel konterkariert der fundierte Artikel zur Gattungstheorie um 1800 die poetologische These einer generellen "Abwendung von als überzeitlich konzipierten Gattungssystematiken" (120) ab 1750, indem er andeutet, wie trotz der Proklamation des "Originalkunstwerks" (206) in den Gattungsdiskursen von Klassik und Romantik die Präskriptivität von Gattungsvorschriften vorausgesetzt oder neu zu gründen gesucht wurde. Auch an anderer Stelle wird mit Blick auf Hegels Historisierung des Gattungsproblems und die gleichzeitige Einbettung in ein "umfassendes idealistisches System" (210) die Dualität von Historisierung und normativ unterlegtem Systematisierungsanspruch selbst in vermeintlich präskriptionsfreien Epochen der Literarhistorie evident.
Generell ist der Disziplinen übergreifende, Theoriepositionen miteinander ins wissenschaftliche Gespräch bringende, internationale Forschung berücksichtigende Ansatz des Handbuchs überaus gelungen und nachhaltig zu empfehlen. Zuverlässige Sach- und Namenregister bieten ein zusätzliches Werkzeug zur Arbeit mit dem Handbuch. [End Page 317] Auf seiner Website offeriert der Metzler-Verlag neben einer pdf-Version der im Buch befindlichen Register auch eine ausführliche Bibliographie Zymners. Das Handbuch bietet insgesamt—das ist seine große wissenschaftliche Leistung—die Möglichkeit zur zuverlässigen und unparteiischen Rekonstruktion von Debattenlagen.