
Bürgerkrieg global: Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman
Wenn Paul Michael Lützeler zu Beginn seiner neuen Studie lakonisch feststellt, dass Literaturwissenschaftler bei der Analyse des Phänomens der Globalisierung "die Nachhut bilden" (14), dann hört man das Echo früherer Resümees aus seiner Feder, die den Stand der Dinge ähnlich kritisch beleuchteten—Mitte der 1990er Jahre beispielsweise, als er die Auseinandersetzung deutschsprachiger Schriftsteller mit dem Postkolonialismus nicht nur als Desiderat benannte, sondern auch selbst zum Vorreiter auf dem Gebiet des Eingeforderten wurde. Mit seinen 1996 und 1998 erschienenen Themenbänden ist er—einmal mehr in der Rolle des transatlantischen Vermittlers—zum Initiator der postkolonial orientierten German Studies und Germanistik geworden, die sich bald danach zu einem fruchtbaren und heute fest etablierten Arbeitsfeld entwickelten. Der damals von ihm geprägte Begriff "postkolonialer Blick" ist inzwischen so selbstverständlich in den akademischen und außerakademischen Sprachgebrauch eingegangen, dass man ihn auch schon ohne Anführungszeichen finden kann.
Es kann nicht die Aufgabe der Rezension einer einzelnen Studie sein, die Verdienste ihres Verfassers eingehend zu würdigen, zumal im Fall von Paul Michael Lützeler als bekannt vorauszusetzen ist, dass er international zu den führenden Wissenschaftlern im Feld der deutschen Literatur und Gesellschaft zählt. Zwei Aspekte sollen jedoch noch hervorgehoben werden, die nicht nur generell charakteristisch für seine Arbeit sind, sondern auch von zentraler Bedeutung für das neue Buch Bürgerkrieg global: Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman: Einerseits die Tatsache, dass seine literaturwissenschaftlichen Arbeiten immer auch wesentliche Beiträge zur Historiographie darstellen und andererseits sein kontinuierliches Bemühen um den Nachweis der gesellschaftlichen Relevanz literarischer Texte. Denn wie kann man der Literatur besser Geltung verschaffen, als wenn man, wie Lützeler, immer wieder gerade die Texte in den Vordergrund rückt, die sich um aktuelle [End Page 648] und gesellschaftlich relevante Themen drehen—und damit die leidige Klage über die "grassierende Irrelevanz" (338) literarischer Produktion schon als solche ad absurdum führen. "Weder im Elfenbeinturm noch bei der Nabelschau, wie oft unterstellt, sieht er die Schriftsteller, sondern als wache Zeitgenossen," schrieb in diesem Sinne auch das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Und wie kann man den Verdacht, die Literaturwissenschaft sei eine "Wissenschaft des nicht Wissenswerten" (um Norbert Mecklenburgs zynische Formulierung zu verwenden), besser ad absurdum führen, als wenn man, wie Lützeler, souverän demonstriert, was diese Wissenschaft leisten muss, um eben diesen wachen Zeitgenossen gerecht zu werden. In diesem Fall war es unter anderem ein gewaltiges Pensum an historischer und politischer Kontextualisierung, die zudem einmal mehr belegt, dass die Literaturwissenschaft, seitdem sie sich von der Dominanz der Philologie am Beginn des 20. Jahrhunderts verabschiedet hat, immer auch multi- und interdisziplinär sein muss.
Die Studie Bürgerkrieg global ist in drei große, der literarischen Behandlung von Bürgerkriegen in verschiedenen Weltregionen folgende Kapitel gegliedert, umrahmt von einer Einleitung, die einen weiten Theoriehorizont um die Komponenten "Macht, Gewalt, Bürgerkrieg und Menschenrechte" (29) zieht, sowie einem "Ausblick" zum Thema "Ethik und Ästhetik." Im ersten Einleitungsschwerpunkt "Literatur und Globalisierung" stellt der Topos von den Schriftstellern als "'Seismographen' ihrer Epoche" (16) die Verbindung zwischen den Bürgerkriegsromanen und neueren Globalisierungstheorien bereit, wobei Lützeler vor allem auch den Zusammenhang zwischen Globalisierung und der "postkolonialen Kondition" der Welt in den Vordergrund rückt (17). Zu Beginn des zweiten Schwerpunkts "Gewalt und Bürgerkrieg" konfrontiert er seine Leserschaft mit einer Einsicht, die vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Konjunktur einschlägiger Veröffentlichungen ausgesprochen erhellend ist: "Mit Theorien, die sich auf Fragen der Multi- , Trans- und Interkultur beschränken, ist narrativen Texten, in denen Krieg und Zerstörung die Hauptthemen bilden, alleine nicht beizukommen" (29). In diesem Sinne ist auch die spätere Textanalyse von einer erfrischenden Ungeduld gegenüber poststrukturalistischen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die selbst angesichts von Krieg, Gewalt und Folter an ihren Prämissen festhalten. Mit dem Blick auf das Imaginäre der Macht gerät jedoch außer acht, dass es in solchen Fällen, wie beispielsweise in Erich Hackls Roman Sara und Simón, um sehr reale Macht geht, mit der "über Leben und Tod entschieden" wird (304); ebenso kann auch die Konzentration auf "Fremdheits- und Alteritätserfahrung in einer anderen Kultur" der "spezifische[n] Erfahrung einer terroristischen Staatsdiktatur," wie Uwe Timms Der Schlangenbaum sie beschreibt, kaum gerecht werden (284). Lützeler selbst reflektiert die Verbindung von Macht und Gewalt sowie die Rolle abnehmender Staatsmacht in diesem Zusammenhang, indem er insbesondere Theorieansätze von Hannah Arendt, Heinrich Popitz und Giorgio Agamben weiterdenkt (29-33). Der dritte Einleitungsabschnitt diskutiert Theoriekonzepte, die sich mit Partisanen und Terroristen auseinandersetzen, zentralen Figuren in jedem Bürgerkrieg, die auch in den untersuchten Romanen in "allen nur denkbaren Zwischenformen" auftauchen (52).
Auf die ideologische Debatte um Menschenrechte lässt Lützeler sich im letzten Einleitungsabschnitt "Menschenrechtskultur und Weltethos" kaum ein; ein obligatorisches Nicken in diese Richtung ist erkennbar, wenn er Hermann Brochs Position diskutiert, dem niemand hätte "klarmachen können, dass es bei seiner Auffassung von [End Page 649] Menschenrechten um eine durch eurozentrische Vorurteile gesteuerte Meinung gehe, die von Vertretern anderer Kulturkreise nicht akzeptiert werden könnte" (58). Das ist jedoch nicht als schulterzuckende Ignoranz zu verstehen, mit der sich der Broch-Forscher hinter seinem Autor versteckt; der Mangel an Interesse verdankt sich vielmehr einer genauen Kenntnis dieser letztlich unfruchtbaren Diskussion, in der nicht selten handfeste Interessenkonflikte mit kulturrelativistischen Argumenten vernebelt werden. Lützeler richtet stattdessen die Aufmerksamkeit auf das wichtigere Bemühen um Konzeptualisierung eines Weltethos auf der Basis eines "Freiheit und Menschenwürde garantierenden Kern[s], der in allen Kulturkreisen identifizierbar ist und die Basis menschlicher Zivilisation überhaupt ausmacht" (58)—selbst wenn dieser "nur ex negativo bestimmt werden kann" (59), also etwa als Formulierung dessen, was Menschen nicht angetan werden darf. In diesem Sinne sind die in der Studie analysierten Romane mit ihrer Thematisierung der Verletzung der Menschenrechte als "Teil" des "aktuellen Menschenrechtsdiskurses" zu sehen (25). Sie stehen in der "Tradition" eines "ethischen Kunstverständnisses," das historisch in Konfrontation mit extremer Missachtung der Menschenrechte wie "Bürgerkrieg, Krieg und Holocaust entstanden ist" (65). Vor diesem Theoriehintergrund löst Lützeler seine eigene Forderung nach einem "Zusammenspiel von Textlektüre, theoretischer Bemühung und historischer Rekonstruktion" (19) ein und entfaltet seine Analyse von Bürgerkriegsromanen über "Europa, Afrika und Asien" (Norbert Gstrein, Lukas Bärfuss, Hans Christoph Buch, Jeannette Lander), über den "Nahen und Mittleren Osten" (Dieter Kühn, Nikolas Born, Christian Kracht, Michael Roes) und über "Lateinamerika" (Gert Hofmann, Friedrich Christian Delius, Uwe Timm, Erich Hackl), die—und das ist ein zusätzliches Plus der Studie—äußerst spannend zu lesen ist.