
A Companion to the Works of Walter Benjamin
Walter Benjamin, "ein weicher bürgerlicher berliner Jude, Lenin erwartend und den Heiligen Geist" (Alfred Andersch), zieht akademisch soviel Aufmerksamkeit auf sich wie nie zuvor, mehr noch: er ist zu einer weltweiten Pop-Ikone geworden, der man Filme, Ausstellungen und Festivals widmet und dessen sperriges Passagen-Werk inzwischen auf Englisch, Mandarin und Brasilianisch-Portugiesisch vorliegt. Seine Texte prägen vor allem im deutschen, französischen und angelsächsischen Sprachraum riesige Forschungsfelder, in den Literatur- und Medienwissenschaften gleichermaßen wie in Kunstgeschichte, Übersetzungstheorie oder Philosophie.
Diese Entwicklungen haben sich spätestens mit der monumentalen, auf drei Bände verteilten Aufsatzsammlung global benjamin abgezeichnet, die 1999 von Klaus Garber herausgegeben wurde. Sie sind für Rolf J. Goebel Anlass gewesen, den Companion zum Werk des Autors ganz ins Zeichen von "Aktualität" und "Aktualisierung" zu rücken und in seiner Einleitung gleich eingangs zu fragen: "Is our time—late capitalist postmodernity in the age of globalizing politics and digital media—particularly destined to actualize Walter Benjamin?" (1). Auf die Gefahren einer unbedachten Aktualisierung weist er sogleich hin (4), doch scheint Benjamin mit der berühmten Formulierung vom "Jetzt der Erkennbarkeit" die heuristische Begründung für eine Aktualisierung selbst zu liefern (12ff.). Aufgrund der Omnipräsenz des Autors innerhalb und außerhalb von academia hält Goebel offensichtlich das Jetzt seiner Erkennbarkeit für [End Page 629] gekommen: "The guiding principle for selecting the topics of this volume has been the assumption that Benjamin's work can be made significant for today in a manner that accords with, and often draws directly on, his own notion of actuality" (15). Solchem Pathos der Aktualisierung zeigen sich denn auch fast alle Beiträger verpflichtet—allerdings mit unterschiedlichem Gewinn.
Der Band umfasst zusammen mit der Einleitung insgesamt dreizehn Aufsätze von Benjamin-Spezialisten aus aller Welt. Dabei ist keine systematische Darstellung von dessen Œuvre angestrebt worden. Die einzelnen Arbeiten befassen sich etwa mit Sprachtheorie, mit dem Barock als Ausgangspunkt der Modernedeutung, mit den autobiographischen Schriften, mit Reflexionen zur Gedächtniskunst, außerdem aber mit Benjamins verdecktem postkolonialen Blick, mit Fragen zu Gender, Sex und Eros in seinen Darstellungen oder auch mit Phantasmagorien bei Benjamin und Adorno. Eine Chronologie seiner wichtigsten Werke (XI-XIII), eine Auswahlbibliographie (295-297) sowie ein gründliches Register (303-314) fördern eine rasche Orientierung noch über den Band hinaus.
Die Schwerpunkte liegen auf den Schriften der späten zwanziger und der späten dreißiger Jahre. Im Vordergrund stehen demnach einerseits Untersuchungen zum Ursprung des deutschen Trauerspiels und zur Einbahnstraße sowie andererseits zum Passagen-Werk, zum sogenannten "Kunstwerk"-Aufsatz, zu den Baudelaire-Studien und zu den "Thesen über den Begriff der Geschichte," wobei das Trauerspiel-Buch oft als geheimes Zentrum der verschiedenen Argumentationen wirkt, was unmittelbar mit Benjamins Indienstnahme des Allegorie-Begriffs für seine Deutungen der Moderne zusammenhängt. Das heißt im Gegenzug: Das Frühwerk ist lediglich mit dem Aufsatz "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" vertreten, die Dissertation zur Kunstkritik der Romantik und der Essay zu den Wahlverwandtschaften werden kaum einmal genannt. Und die großen, Anfang der dreißiger Jahre verfassten Studien zur Literatur, etwa zu Kafka, Kraus und Brecht, spielen überhaupt keine Rolle.
Mit diesem selektiven Zugriff verbindet sich dann keine Kritik, wenn man von einem Companion für das englischsprachige Publikum keine vollständige Einführung ins Gesamtwerk erwartet. Vor allem aber muß die Auswahl als Symptom verstanden werden, dass Benjamins Werk erstens nicht mehr der Literaturwissenschaft "gehört" und dass zweitens seine Schriften zur Literatur, und hierin liegt das eigentlich Bemerkenswerte, offenbar nirgends als anschlussfähig für die Diskurse der Gegenwart erachtet werden, dass sie sich, mit anderen Worten, nicht im Namen von Aktualität und Aktualisierung verhandeln lassen. Umgekehrt darf man natürlich in dieser Widerständigkeit auch eine spezifische Qualität dieser Schriften erblicken.
Drei Analysen erweisen sich als besonders ertragreich. Das betrifft erstens die Überlegungen Bernd Wittes zu "Literature as the Medium of Collective Memory," der anhand der Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit den von Benjamin hergestellten Nexus von Politik- und Sozialgeschichte auf der einen Seite und Literatur- und Mediengeschichte auf der anderen Seite rekonstruiert und zugleich die Potentiale und Grenzen von Benjamins Beschreibungsmodell für "our telematic age" hervorhebt (110). Es betrifft zweitens den ebenfalls medientheoretischen Beitrag von Lutz Koepnick, der analog zu Witte die beschränkte Reichweite von Benjamins kulturgeschichtlichen Prognosen erörtert und gleichwohl dessen Leistung im Horizont neuerer Medientheorien einordnet: "Benjamin's broader assumptions about the [End Page 630] emancipatory politics of film and technical reproduction have often proved to be dead wrong; new media and post-cinema today testify to the fact that the mechanical and the auratic, reproducibility and a heightened sense of the here and now, can go hand in hand and in fact mutually reinforce each other. There are good reasons, however, not to relegate Benjamin's keen insights about the coupling of body and sight, of spectatorship and embodiment, of mediation and empathy, to the dustbins of modernist intellectual history" (128f.). Und es betrifft drittens schließlich Vivian Liskas Darstellung von Benjamins messianischem Erbe, wie es von Derrida und insbesondere Agamben aufgenommen und weiter entfaltet wurde. Entscheidend hierbei ist die "idea of prose" (201-209), die Agamben in Auseinandersetzung mit Benjamin's "messianic ethics of narration" (206) entwickelt: "Agamben's 'idea of prose' calls for an integral actuality, that is, of a fulfilled now-time without tension, displacement, and deferral. While Benjamin's 'Jetztzeit' contains worldly splinters pointing to a messianic fulfillment, Agamben's 'now' can be understood as an attempt to think a 'pure' interruption, free of all mediation, conception, and precondition, uninfected by a world that presents itself as one continuous catastrophe" (208). Die genannten Beiträge überzeugen nicht zuletzt deshalb, weil sie kontinuierlich den geschichtlichen Ort des Autors ebenso bedenken wie die Geschichtlichkeit seiner Positionen.
Benjamins Werk wird ein disziplinübergreifendes Ideenparadies bleiben. Nicht alles freilich, was man darin findet, läßt sich in kulturwissenschaftliche Praxis überführen.