
Aussöhnung.Sublimierung als Paradigma in Goethes Trilogie der Leidenschaft
The essay offers close readings of three poems Goethe published in 1827 as the Trilogy of Passion. As works of art these poems are examples for what Freud later described as sublimation. Goethe's arrangement confi rms this perspective, as the trajectory leads from despair, An Werther, via grief, Elegie, to atonement, Aussöhnung. On the other hand, as the essay argues, the three poems describe Goethe's life itself as a trilogy of passion, marked by the turning points of the novel Werther, the drama Torquato Tasso, and the Trilogy itself. In his autobiography, Goethe calls poetry the "secular gospel." The gospel includes the passion, culminating in the resurrection, the epitome of sublimation. Goethe's life turns out to be haunted by the taedium vitae, and secular sublimation does not refer to the suffering subject but to its beautiful products only. The sublime works of poetry therefore protest against a reality principle requiring resignation and sublimation: The gift of poetry enables the poet to say what he suffers, but does not end his suffering.
Für Paul Fleming
1. Das weltliche Evangelium
Johann Wolfgang Goethe, dessen letzter Roman ‚Entsagung' im Titel führt, hat programmatisch in Dichtung und Wahrheit seine Dichtung als Resultat der sublimierenden Verarbeitung von Erfahrung beschrieben. In einer der bekanntesten Passagen der Autobiographie heißt es:
Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extrem in das andere warf. Alles was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession.1
Im dritten Teil von Dichtung und Wahrheit findet sich eine weitere Bestimmung der wahren Poesie, die in der schönen Metapher vom Luftballon nicht nur den Aspekt einer Durcharbeitung von Erfahrung durch Schreiben akzentuiert, sondern darüber hinaus das Erhebende, das buchstäblich Sublimierende des Schreibaktes betont. Goethe gelingt ein sehr stimmiges Bild, bezeichnet doch Sublimierung als terminus technicus in der Chemie den direkten Übergang vom festen Aggregatzustand ins Gasförmige. Im kindlichen Bild des Luftballons wird zudem der bittere Aspekt der Sublimierung als eines Surrogates [End Page 461] fröhlich aufgehoben, seinerseits sublimiert, woran sich die Goethesche Sorgfalt in der Bildwahl glanzvoll dokumentiert. Die wahre Poesie als ein "weltliches Evangelium" befreit vom drückenden Lastcharakter des Daseins, von der depressio, und entführt das Subjekt in eine vogelfreie Höhe, die selbst über den latent verkniffenen Todernst des Erhabenen heiter erhebt.2 Bereits im Torquato Tasso hatte Goethe die Idee eines mäßigenden Ausgleichs zwischen den das Subjekt zerreißenden Extremen des Lust- und des Realitätsprinzips in Versen komprimiert, die kaum weniger berühmt wurden als die zitierten Zeilen aus Dichtung und Wahrheit und die populär gewordene Version des Freudschen Sublimierungs- Theorems in nuce formulieren:
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.3
Diese Verse des Tasso setzt Goethe mit einer kleinen Modifikation dem bedeutendsten Gedicht seines Spätwerkes als Motto voran, der Marienbader Elegie, die in der Ausgabe letzter Hand mit zwei anderen Gedichten zur Trilogie der Leidenschaft zusammengeschlossen wurde. Eine Lektüre dieses Gedichtes, seiner Genese sowie seines Kontextes, der Gedichte An Werther und Aussöhnung, ist aufschlussreich für den Versuch, Sublimierung als eine Kultur fördernde Verarbeitung frustrierter Triebwünsche exemplarisch zu verstehen.
Die Trilogie der Leidenschaft eignet sich aber auch deshalb zum Objekt des Studiums, weil sie auf der einen Seite in ihrer Genese und als Artefakt die Freudsche Lehre bestätigt, sie aber auf der anderen Seite Einwände der Metakritiken an Freud antizipiert; Goethes schwarze Gedichte überschatten noch das Sinnangebot der etablierten Psychoanalyse. Diese Beobachtung gilt auch für Elemente von Dichtung und Wahrheit: Die Bestimmung der Poesie als der einen heiteren Überblick verschaffenden Montgolfière ist als Gegengewicht in Goethes karge Bemerkungen zum Werther eingefügt, die eine kurze Theorie des Selbstmordes formulieren, des Misslingens von Sublimierung. Für Goethe entsteht "jener Ekel vor dem Leben", wenn dem Subjekt nach einer die Balance vernichtenden Erfahrung der Zugang zur Quelle alles Behagens verschlossen ist, die Freude an der „regelmäßig[n] Wiederkehr der äußeren Dinge."4 In einer erstaunlichen Wendung lehrt Goethe, dass es vor allem „die Wiederkehr der Liebe" sei, die den Lebensekel auslösen könne.5
In der Liebe zur neunzehnjährigen Ulrike von Levetzow erleidet Goethe noch einmal die ‚Spaltung' zwischen väterlich liebenden und jungenhaft begehrenden Empfindungen. Auch diese Liebe zeitigte, wie es bereits im Tasso tragisch verhandelt worden war, gesellschaftlich eine „Übertriebenheit", die nichts Gutes stiftete, wohl aber, wie Goethe zu Eckermann meinte, ein gutes Gedicht. Mit der Trilogie der Leidenschaft als dem extremen Ausdruck der Zerstörung des Menschen durch die Wiederkehr der Liebe liegt der gegenüber dem Tasso gesteigerte neue Werther eines 74jährigen Dichters vor, der sich schonungslos ausspricht über die conditio humana. [End Page 462]
Im Gedicht An Werther lässt Goethe die Leser wissen, dass die im Roman als singulärer und tragischer Fall geschilderte Erfahrung ihm rückblickend als Regelfall der Liebe erscheine: „Statt sinnvoller Entwicklung auf immer höhere Ziele hin findet die Wiederholung Sinn negierenden Scheiterns statt."6 Die Elegie, das Zentrum der Trilogie, affirmiert den „Zusammenbruch des Sinnsystems",7 der sich als eine Serie von Erfahrungen des Scheiterns in und an der Liebe vollzieht. Der späte Goethe, das zeigt die Trilogie, dokumentiert „die Totalkatastrophe des Sinns"8 und konstatiert zugleich den Kollaps der idealistischen Philosophie der Epoche. Dieses Ende vermag, wie das die Trilogie beschließende Gedicht Aussöhnung lehrt, einzig und nur bedingt die Erfahrung der Musik zu kompensieren. Goethes Trilogie der Leidenschaft versammelt auf gedrängtem Raum die wesentlichen Elemente des Literatur und Denksystems der Goethezeit, das Marianne Wünsch prägnant auf die Formel gebracht hat: „Liebesbesitz = Selbstbesitz = Weltbesitz."9 Zugleich wird der Untergang dieses Systems verzeichnet. Eine Lektüre der Trilogie kann daher als Fallstudie dem Versuch einer Rekonstruktion der Freudschen Sublimierungslehre vorangehen, und die Frage ergibt sich, ob die Unversöhnlichkeit der Marienbader Elegie am Ende nicht auch die Psychoanalyse und ihre Lehre von der Sublimierung heimsucht. Insofern Goethes Gedichte als Artefakte Sublimierungen sind, bestätigen sie Freuds Theorie. Insofern aber Goethes Gedichte als Fazit des idealistischen Zeitalters den Untergang des Sinnsystems konstatieren, geraten sie zur Provokation eines Realitätsprinzips, das mit einer stabilen Kategorie des Sinns arbeiten muss. Wie radikal die Stellungnahme der Trilogie zum Ende des Sinns intendiert ist, wird deutlich an der Bemerkung Goethes Eckermann gegenüber, er habe mit der Marienbader Elegie rein auf die „Gegenwart" gesetzt, „so wie man eine bedeutende Summe auf eine Karte setzt, und suchte sie ohne Übertreibung so hoch zu steigern als möglich."10
Die Rede vom hohen Einsatz gilt für die Trilogie insgesamt und unterstreicht, dass Goethe sich selbst als Individuum sozial exponiert, sich den Lesern unverhüllt als ein bestimmter Mensch in seiner Qual vergegenwärtigt und so den Rahmen poetischer Immanenz sprengt: Im nihilistischen Werther- Gedicht identifiziert der Dichter in Verletzung der Konvention das lyrische Subjekt direkt mit dem empirischen Autor Johann Wolfgang Goethe und traktiert den Helden seines Romans wie einen realen Menschen. Ferner ruft die Trilogie Tasso auf, das unversöhnt schließende Drama um den zur Anpassung unfähigen Künstler par excellence. „Trilogie der Leidenschaft"—der Titel bezeichnet daher auch die Trilogie der drei traditionellen Gattungen: Roman, Drama und Gedicht. Insofern die drei Werke—Werther, Tasso und die Trilogie—Wendepunkte des Goetheschen Lebens markieren, impliziert der Titel „Trilogie der Leidenschaft" schließlich: das Leben Goethes, des Repräsentanten der Epoche, als eine Trilogie der Leidenschaften zu beschreiben, als Passionsweg. Das fröhliche Bild von der Poesie als Ballon aus Dichtung und Wahrheit kann in den Hintergrund treten lassen, dass Goethe die Poesie [End Page 463] im zitierten Passus provokativ als „ein weltliches Evangelium" bezeichnet, wodurch er ein für sein Werk, aber auch für die Theorie der Sublimierung relevantes Charakteristikum benennt: Das Evangelium schließt die Passion ein, die im Wunder der Wiederauferstehung kulminiert, dem Inbegriff von Sublimierung: Das grob Stoffliche und Vergängliche wird unsterblicher Geist.
Im Englischen wird der Doppelsinn des Titels—Trilogy of Passion—sinnfälliger als im Deutschen. Vielfach wurde darauf hingewiesen, dass Werther eine literarische Sensation auch deshalb war, weil hier eine potentiell blasphemische Übertragung der Passion auf die weltliche Liebesleidenschaft vollzogen worden sei.11Werther ist eine weltliche Passion, und die Trilogie der Leidenschaft gewinnt ihre Faszination und Beunruhigung auch aus dem Umstand, dass hier erneut Liebeserfahrung und religiöse Erfahrung, die Erfahrung absoluten Sinns, in einer Weise überblendet werden, die unentscheidbar macht, ob in der weltlichen Liebe eine überweltliche Erfahrung sich mitteilt, ob religiöse Erfahrung nachvollziehbar wird erst, wenn man liebt, oder schließlich die Sinnlosigkeit der Liebeserfahrung über den illusionären Charakter religiöser Erfahrung psychologisch aufklärt. Goethes Dichtung ist das weltliche Evangelium, Schilderung der Passion; die Seele geht in der tragischen Erfahrung der Liebe zugrunde, und ihre Wiederauferstehung vollzieht sich sublim und subtil im Gedicht, und nur dort. Es vollzieht sich Sublimierung, aber über einem leeren Abgrund der Sinnlosigkeit, den die Elegie an ihrem Ende erschreckend aufreißt:
Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren,Der ich noch erst den Göttern Liebling war;Sie prüften mich verliehen mir Pandoren,So reich an Gütern, reicher an Gefahr;Sie drängten mich zum gabeseligen Munde,Sie trennen mich, sie richten mich zu Grunde.
2. Zur Genese des Textes
Die historischen Dokumente zur letzten Liebe Goethes sind spärlich, ihr lyrischer Ertrag hingegen wurde berühmt. Während der Kuraufenthalte des Dichters in den Jahren 1821 bis 1823 kommt es in Marienbad zum regen geselligen Umgang mit der Familie von Levetzow. Insbesondere schätzt der alte Mann das Zusammensein mit der siebzehn- , zuletzt neunzehnjährigen Tochter Ulrike. Im Sommer des Jahres 1823 wird der dramatische öffentliche Kulminationspunkt dieser Liebe erreicht, als der Großherzog von Sachsen- Weimar- Eisenach im Namen des vierundsiebzigjährigen Dichters bei deren Mutter um die Hand Ulrikes anhält, vergeblich. Die Familie von Levetzow reist am 17.8. ab nach Karlsbad, wohin Goethe ihr wenig später folgt. Nach einigen Tagen verlässt Goethe die Familie am Morgen des 5. September. Im Tagebuch ist notiert: „allgemeiner, etwas tumultarischer Aufbruch."12 Als der alte Dichter am 17. September von seiner Reise zurückkehrt, geht man zunächst schonend miteinander [End Page 464] um. Gleichwohl ist die Atmosphäre der gesellschaftlichen Peinlichkeit wegen nicht gut, sondern schlecht; es gibt „einige Verlegenheit", wie der Sohn diskret notiert.13 Im Fall einer Heirat würden die jungen Goethes „eine 19jährige Stiefmutter bekommen, die auf nicht absehbare Zeit Herrin im Haus am Frauenplan wäre, und ihre Kinder bekämen eine Großmutter, die jünger wäre als die eigene Mutter."14
Der alte Mann zieht sich vor Konflikten, vor Schonung und Verlegenheit seiner Familie schweigend in die unzugängliche Einsamkeit seines Arbeitszimmers zurück. Er breitet Notizen vor sich aus, den Schreib- Calender für das Jahr 1822, der die noch in der Kutsche entstandene Urschrift eines Gedichtes enthält sowie die bereits weitgehend vollständige Niederschrift. Er nimmt einen großen Bogen kostbaren und starken Velinpapiers und faltet ihn. Sein ganzes Leben hat er mit Papieren verbracht; meisterhaft beherrscht er die subtile Buchbinderkunst des Faltens, kein unnötiger oder falscher Knick unterläuft ihm. Aus dem großen Bogen wird ein schönes, faltenloses Heft von sechzehn Seiten, und es entsteht die artistische Herausforderung für den Kalligraphen: Keine der sechzehn Seiten kann aus dem Heft heraus gelöst und ersetzt werden, da sie alle untrennbar Teil des einen großen weißen Bogens sind. Die Niederschrift muss fehlerfrei sein, sonst ist das ganze Heft hässlich und verdorben. Der alte Mann wählt schwarze Tinte, deren Tilgung nur möglich ist, indem man den reinen Bogen zerkratzt, und beginnt in großen, regelmäßigen, überaus gut lesbaren Zügen in lateinischer Handschrift zu schreiben. Die hohe Kunst des Schreibens gelingt makellos. Die Elemente des Textes gliedert der Schreiber jeweils durch eine geschwungene Volute, eine zweifache gespiegelte Schlangenlinie. Das erste Blatt bleibt leer, die letzten beiden auch. Der Dichter nimmt eine Mappe aus kostbarem roten Maroquin- Leder, legt das Heft hinein und fixiert das Gedicht mit einer seidenen Schnur. Später wird das Konvolut seinerseits „in eine eigens gefertigte, mit blauem Papier überzogene Mappe eingelegt, auf deren Deckel mit goldenen Lettern steht: Elegie. September 1823." Das blaurote Heft zeigt er zunächst niemandem, er verschließt es. „Diese Reinschrift [ . . . ] ist eins der schönsten Beispiele, wie Goethe dem sprachlichen Kunstwerk Ehre erwies durch das Werk der Hand."15 Goethes Reinschriften sind Ausdruck von Ehrerbietung gegenüber der Sprache und ihrer Auskristallisierung im Gedicht. Sie unterstreichen die Objektivität des sprachlichen Gebildes, dessen Loslösung von der Individualität des Autors, der überschritten wird von der Sprache, die durch ihn wie durch einen Katalysator hindurch geht und sich in diesem Durchgang zum Gedicht formt. Die Reinschrift der Marienbader Elegie aber ist, wie der Umgang mit dem Manuskript bezeugt, ein Sonderfall. Diese Reinschrift ist ein Test, den Goethe in der Einsamkeit an sich selbst vornimmt. Er besteht den Test triumphal: kein Zittern der Hand, keine schwarzen Tropfen, keine Verschreibung. Die Reinschrift der Elegie dokumentiert, dass der Autor ins Reine gekommen ist mit einer Erfahrung, dass sich etwas geklärt hat zur klaren schwarzen Figur auf weißem Grund. Goethe beherrscht wieder meisterhaft die drei Künste: [End Page 465] das Dichten, das Falten, das Schreiben. Der alte Mann will testen, ob er die grauenhafte Erfahrung der Zurückweisung und Trennung, die er in der Elegie niederlegt, gemeistert, hinter sich gebracht hat. Die Marienbader Elegie gerät zum großen Beispiel vollendet gelungener Sublimierung einer unglücklichen Liebe. Die Betonung der materialen Dimension ist stark, schlägt sich nicht nur nieder in der Sorgfalt der Reinschrift, sondern auch in der Anzahl der Strophen. Die Elegie aus dem Jahr 23 umfasst 23 Strophen.
Die Genese des Gedichtes bestätigt glanzvoll das von Sigmund Freud etablierte Theorem, Sublimierung sei eine dem Menschen mögliche Ersetzung eines geliebten Objektes durch etwas anderes, die helfe, über eine bis zum Suizidwunsch schmerzhafte Frustration des Begehrens hinweg zu kommen. An die Stelle des verlorenen Objektes tritt kompensatorisch die Arbeit am Prozess der Zivilisation, deren hauchfeine, doch sozial womöglich erfolgreiche Blüte das kulturelle Erzeugnis darstellt, etwa ein Klagegedicht, eine Elegie. Zwei alten Freunden, Zelter und Wilhelm v. Humboldt, gibt Goethe das Gedicht. An eine Veröffentlichung denkt er einstweilen nicht. 1825 erscheinen einige der Verse in Kunst und Altertum, schließlich bildet die Elegie in der Sammlung von 1827 den Mittelteil der Trilogie der Leidenschaft. Am 27. Oktober 1823 wird auch Eckermann die Ehre zuteil, das wie einen Schatz gehütete Gedicht lesen zu dürfen.16
Was von der Philologie an Vorstufen der Elegie gefunden wurde, das ist ein einfaches Blatt Papier bereits aus dem Sommer 1822.17 Auf dem Blatt ist nüchtern in Goethes Handschrift notiert: „Das Maß ist voll." Dieser Satz ist vorab kein Vers, sondern ein prosaisches Fazit, ein Aus und Vorbei, ein ausgeführter Gedanken- und Schlussstrich. Die Niederschrift des Endes aber ist zugleich die Überschreitung des Endes qua Objektivierung. „Das Maß ist voll." steht außerhalb des schreienden und weinenden Subjekts, ihm gegenüber, auf einem Blatt Papier, ist lesbar. Das Unverständliche und Sinnlose, der Schmerz, wird damit scheinbar verständlich: Indem man einen Satz versteht, so die fruchtbare Illusion des Schreibens, wird verständlich, wovon er spricht. Indem der unerträgliche Schmerz niedergeschrieben wird, ist die Sublimierung eingeleitet, die Differenz zwischen Subjekt und Leid. Das bis zum Rand gefüllte Maß wird zum Versmaß semantisiert, zu zwei Jamben, an die sich ein weiterer Vers anschließt, so dass auf dem Blatt nun steht:
Das Maß ist voll.Warum streb' ich immer dahin,Wohin ich nicht soll.
Zuletzt wird die Artikulation des Schmerzes ihrerseits gerahmt, indem eine vierte Zeile an den Anfang tritt und dem zunächst ersten Vers die kodifizierte Artikulation des Leidens, sein lyrisch konventioneller Ausdruck vorgeschaltet wird. Ein vierzeiliges Gedicht mit Kreuzreim ist entstanden, der Schmerz lyrisch gebändigt, distanziert, sublimiert: [End Page 466]
Könnt' ich vor mir selber fliehn!Das Maß ist voll.Ach! Warum streb' ich immer dahin,Wohin ich nicht soll.18
Auf demselben Blatt findet sich ein weiterer Vierzeiler, dessen Kern ebenfalls ein objektiviertes Schreien ist: „Welch unerträgliche Schmerzen!" Das Gedicht selbst, auch in Kreuzreimen gesponnen, webt Konventionen um den Schrei, das „Ach!" einerseits, die klassische, auch von Goethe, etwa im Märchen verwendete Metapher der Schlange anderseits. Das Gedicht lautet dann:
Ach! Wer doch wieder gesundete!Welch unerträgliche Schmerzen!Wie die Schlange, die verwundete,Krümmt sich's im eignen Herzen.19
In der Zeit um 1823 ist Goethe herzkrank, so dass Karl Eibl zuzustimmen ist, wenn er, nicht nur für die Gedichtsplitter und Vorstufen, sondern auch für die Elegie beobachtet, dass der Rede vom leidenden Herzen eine buchstäbliche Dimension eignet.20 Als Goethe die Elegie im Oktober Eckermann vorlegt, steht der physische Zusammenbruch noch bevor; das triumphale Gelingen der Reinschrift war für den leidenden Menschen nur ein Scheinsieg. Als Goethe im November kollabiert, eilt Zelter herbei und muss dem Kranken wieder und wieder die Elegie vorlesen. In einer erstaunlichen Tagebuchnotiz Zelters findet sich eine harte Version der Idee von Sublimierung als dem Ausbrennen der tödlichen Krankheit Liebe.21 In der Reinschrift der Elegie kehrt die vor Schmerz gekrümmte Schlange entspannt wieder, als geschwungene Volute, Inbegriff der graziösen Figur, die elegant trennt und verbindet. Der Krampf der vor Schmerz gekrümmten Kreatur hat sich gelöst und bildet im Gedicht die von William Hogarth als Urelement ästhetischer Darstellung beschriebene serpentine line, die line of beauty. Die Metapher der Schlange verschwindet im Fluss des Gedichts; von ihr bleibt die geschwungene Form. Am Ursprung der makellosen Sublimierung steht der kreatürliche Schmerzensschrei. Vom schrecklichen Anfang des Schönen haben wir indirekte Mitteilung, aus dem Torquato Tasso, der Motto und Matrix der Elegie spenden wird:
Die Träne hat uns die Natur verliehen,Den Schrei des Schmerzens, wenn der Mann zuletztEs nicht mehr trägt—22
3. An Werther
Der Gedankenstrich markiert bei Goethe den Ort des Unerträglichen, des Unaussprechlichen, die Grenze sprachlicher Artikulation. Er fixiert den Moment des Atemstillstands, der zugleich eine Wende ist. Exemplarisch lässt sich dieser [End Page 467] Gebrauch des Gedankenstrichs in der ersten Strophe der Elegie studieren. Der Gedankenstrich besetzt hier die unerträgliche Sekunde, in der sich entscheidet, ob der Tag das Grauen der Trennung oder die Seligkeit der Gegenwart bringen wird:
Das Paradies, die Hölle steht dir offen,Wie wankelsinnig regt sich's im Gemüte!—Kein Zweifeln mehr! Sie tritt ans Himmelstor,Zu ihren Armen hebt sie dich empor.23
Während der Gedankenstrich in der Elegie weitgehend zur schön geschwungenen Volute ästhetisiert wird, und, abgesehen von der Angstsekunde in der ersten Strophe und einer Parenthese noch zweimal Wendungen des Gedankens anzeigt, bleibt er als scharfer Schnitt erhalten im Gedicht An Werther, das Goethe 1824 schreibt. Der scharfe Strich verschwindet aus der Elegie, wandert aus in ein weiteres Gedicht, das womöglich als das bitterste gelten kann, das er überhaupt schrieb und das den unsublimierbaren, potentiell krank machenden Rest hörbar werden lässt, der nach Abfassung der Elegie noch blieb. Der Strich markiert im Werther- Gedicht die Apologie des Selbstmords: „Gingst du voran—und hast nicht viel verloren." Er markiert ferner den tragischen Augenblick der Verfehlung des Glücks: „Da steht es nah—und man verkennt das Glück." Und schließlich markiert er die Trennung, die eine Erfahrung des Todes ist: „Dem Scheiden endlich—Scheiden ist der Tod!" Der Dichter lässt mit der Reinschrift nicht nur die Vorstufen im Wesenlosen hinter sich. Goethe, der „immer noch einen Rest jener Leidenschaft im Herzen hatte",24 lagert ein Jahr später etwas unerträglich Gebliebenes aus, indem er es in ein anderes Gedicht transferiert. 1827 stellt er den Zusammenhang zwischen Werther, Tasso und der Elegie öffentlich wieder her. Goethes Verfahren einer distanzierenden Rahmung der Erfahrung durch Vers und Einband setzt sich bei der Publikation der Klage fort. In der Ausgabe letzter Hand veröffentlichte Goethe erstmals das Gedicht mit dem Titel Elegie. Gerahmt wurde das bis dahin nur wenigen Freunden bekannte Werk durch das bereits 1825 in der Jubiläumsausgabe des Jugendromans ohne Titel gedruckte Gedicht An Werther und das kleine Gedicht Aussöhnung, das bei Gelegenheit für die polnische Pianistin Maria Szymanowska entstand. Die drei Gedichte wurden vereint unter einem Titel, der berühmt wurde: Trilogie der Leidenschaft.
Die Anordnung der Texte stimmt mit den Daten ihrer ursprünglichen Entstehung also nicht überein: Das Gedicht über die Aussöhnung entstand zuerst, im Sommer 1823 noch in Marienbad, das Gedicht An Werther schrieb Goethe erst 1824, aus Anlass des 50. Jahrestages der Veröffentlichung des Werther. Durch das Arrangement der Texte entsteht, betrachtet man nur die Titel, ein begütigendes Narrativ: Auf das Geistergespräch mit einem Selbstmörder folgen die Stanzen der Elegie, und das Ganze schließt mit dem Dank an den Trost, den die Musik spendet. Der für die Genese der Elegie dokumentierte Vorgang der [End Page 468] Sublimierung wird in der Sequenz der Gedichttitel erneut inszeniert: von der Verzweiflung über die Trauer hin zum erleichternden Weinen. Wie Goethe aus der Distanz, 1831, bemerkt, bildete sich die Trilogie „erst nach und nach und gewissermaßen zufällig." Sie erhält ihre Einheit durch die „liebesschmerzlichen Gefühle", und es gelingt, der Forderung an die drei Elemente zu genügen: „daß in der ersten eine Art Exposition, in der zweiten eine Art Katastrophe und in der dritten eine versöhnende Ausgleichung stattfinde."25
Mit der Trilogie der Leidenschaft wagt Goethe mit der vom nahen Tod autorisierten letzten Hand eine aufwühlende Summe seines Lebensweges. Der Titel ist, wie bereits angemerkt, doppeldeutig, insofern er nicht nur auf die drei Gedichte verweist, sondern Goethes Leben als eine Trilogie der Leidenschaft beschreibt, deren drei große Stationen durch die drei Genres, durch den Roman Die Leiden des jungen Werthers, das Künstler- und Gesellschaftsdrama um Torquato Tasso, schließlich die drei Gedichte der Trilogie bezeichnet werden. Dieses Leben erweist sich als immer wieder heimgesucht von der „ebenso natürlichen wie unnatürlichen Krankheit", dem Lebensekel, dem taedium vitae. 26 Die folgende Lektüre des Goetheschen Passionsweges mustert die drei Stationen in der vom Dichter vorgegebenen Sequenz, um zu einem differenzierteren Verständnis dessen zu gelangen, was mit Sublimierung gemeint sein könnte.
Erich Trunz hat angemerkt, dass das Gedicht An Werther „oft von schneidendem Sarkasmus" sei, dass ihm ein „nihilistischer, Illusionen zerstörender Zug" eigne.27 Das Gedicht bändigt nur mühsam persönliche Bitterkeit und Verzweiflung und formuliert darüber hinaus eine ideengeschichtliche Bankrotterklärung. Der Bewegung von Aufklärung und Idealismus, deren Erblühen Goethe von 1774 bis 1824 selbst bezeugte, in vielfältigem Austausch beförderte und als Zentralfigur des geistigen Lebens national und international inspirierte, wird ein Scheitern attestiert. Es gibt briefliche Äußerungen Goethes von ähnlicher Schärfe; im Werk delegiert er die vernichtende Stimme an andere Wesen, exemplarisch an Mephistopheles. Die Provokation des Gedichtes besteht darin, dass das lyrische Ich hier mit dem Autor des Werther identifiziert ist. Goethe spricht ostentativ selbst, verbirgt sich nicht hinter einer literarischen Figur.
Das Gedicht An Werther wirkt, trotz des mit einer Ausnahme (Vers 2) konsequent durchgehaltenen fünfhebigen Jambus, auf den ersten Blick sehr unregelmäßig. Strophe 1 und 2 umfassen jeweils 10, die Strophen 3 und 5 jeweils 12 Verse, während Strophe 4 nur aus 6 Versen, also exakt aus der Hälfte ihres Rahmens, besteht. Der Eindruck des Unregelmäßigen, beinahe Zerhackten, wird durch Verhärtung des Klangs erzeugt. Während die erste Strophe schematisch eine Stanze etabliert (ababcdcdee), folgen die übrigen Strophen konsequent dem Paarreim. Der so erzeugte monoton hämmernde Klang einer abhakenden Mitteilung von Thesen, die keinerlei Widerspruch zulassen, wird dadurch intensiviert, dass mit dem Anfang der zweiten Strophe (ab Vers 15) [End Page 469] die weiblichen Endungen verloren gehen (auf die Ausnahme Wonne / Sonne wird zurück zu kommen sein). Der Kontrast zur ersten Strophe ist markant, denn Goethe hatte dort männliche und weibliche Versenden alternieren und sie über den Paarreim an ihrem Ende (erkoren / verloren) auch weiblich ausklingen lassen. Die kleine, nur aus 6 Versen bestehende Strophe erweist sich als in die harte, ‚männliche' Fügung der Thesen über die conditio humana buchstäblich eingeklemmt. Während die eröffnende Stanzen- Strophe die Form der Elegie präludiert, komprimiert die kleine Strophe deren zentrales Thema, die „tückische" Trennung, die am Ende der immer weiter gesteigerten Liebe steht: der Verlust der Gegenwart, um die es einzig geht.
Das hart gefügte Gedicht An Werther wirkt unheimlich: Goethe spricht den Protagonisten seines ersten Romans an, als handele es sich um einen wirklichen Menschen. Die ästhetische Grenze wird an gleich zwei Stellen eingerissen: Das lyrische Ich offenbart sich direkt als der Autor Goethe, der sich als verantwortlich für den Gehalt seines Romans erklärt, der somit den Bannkreis der Fiktion transzendiert und tendenziell zum ernsten Dokument eines Lebens wird. Mit Werther, das suggeriert die Akzentuierung der auto-biographischen Dimension, hat sich ein Teil Goethes selbst das Leben ge-nommen; etwas starb, und eine Lebenswunde blieb, die sich auch fünfzig Jahre danach nicht geschlossen hat, vielmehr erneut aufgerissen wurde. Gesteigert wird die Unheimlichkeit einer Verlebendigung des Helden dadurch, dass Werthers Geschichte nicht, wie viele Schelmen- oder Abenteuerromane, in einer Weise endete, die viele weitere Erlebnisse wahrscheinlich bleiben ließe. Für Werther fällt das „Und so lebte er dahin" aus. Die Anrede auch an einen fiktiven Helden, dessen Leben weiter geht, ist als poetische Figur denkbar. So wandert Ariel aus Shakespeares The Tempest hinüber in den zweiten Faust. Werthers Ende hingegen ist bekannt: „Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen."28 Goethe spricht in diesem Gedicht furchtlos mit dem entstellten Gespenst des Selbstmörders. Der Charakter des Gruseligen wird dadurch intensiviert, dass der Tote nicht in der Unterwelt, sondern vor dem grell kontrastiven Hintergrund eines strahlenden Frühlingstages begegnet, „auf neu beblümten Matten." Beschriebe das Gedicht die Wiederbegegnung zweier alter Freunde nach einem halben Jahrhundert, es wäre eine schöne Szene mit einem Einschlag von Nostalgie. Doch ist die Situation in ein verstörendes Flirren getaucht, insofern sich die Natur zwar frühlingshaft verjüngt, aber ein Alter in strahlender Helle dem Geist eines toten Jünglings begegnet. Es ist ein Echo der Marienbader Situation: Ein alter Mann erlitt einen Liebesfrühling, eine Neuauflage der Wertherzeit, und es dokumentiert eine Art von kaltem Humor, dass das Gedicht An Werther einer Neuauflage des leidenschaftlichen Jugendromans vorangestellt wurde. Das Beängstigende des Gedichtes wird schließlich erzeugt durch den rücksichtslosen Zug ins Zynische: [End Page 470]
Zum Bleiben ich, zum Scheiden du, erkoren,Gingst du voran—und hast nicht viel verloren.
Da das Werther- Gedicht unmaskiert autobiographisch spricht, kann man womöglich die Kränkung ermessen, die angesichts dieser Kälte noch lebende Wegbegleiter Goethes, Freunde, Verwandte, Geliebte, Mitarbeiter mögen empfunden haben: Das vielfach als so reich und erfüllend bewunderte und beneidete Leben dieser fünfzig Jahre war kaum der Rede wert. Der Dichter hätte sich eigentlich ebenfalls umbringen können. Die enttäuschenden Strukturen des Lebens waren zur Werther- Zeit schon bekannt. Es ist in dem halben Jahrhundert seither nichts wesentlich Neues vorgefallen: Aus der Perspektive der Passion ist alle ‚Tätigkeit' trauriges Surrogat, die an die Stelle des ‚eigentlich' Begehrten tritt. Der einzige Unterschied zwischen der Erfahrung des Jünglings und der des alten Mannes besteht in der das taedium vitae intensivierenden ewigen Wiederholung der immer gleichen Muster. Die Kindheit war wunderbar, der Mensch schien „gepflanzt in Paradieses Wonne", doch bald kommt es zu unangenehmen Diskrepanzen zwischen Innen und Außen, die als beleidigender cantus firmus das Leben fortan begleiten und verbittern werden:
Keins wird vom andern wünschenswert ergänzt,Von außen düstert's, wenn es innen glänzt,Ein glänzend Äußres deckt mein trüber Blick,Da steht es nah—und man verfehlt das Glück.
Goethe beschreibt in provokant lockeren Versen die gesamte Denkbewegung seiner Epoche als gescheitertes Projekt. Die intellektuelle Anstrengung von Kant bis Hegel kann summarisch als ein Versuch charakterisiert werden, die Kluft zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt zu schließen. Der fehlende Zusammenhang zwischen Innen und Außen, der Riss zwischen Ich und Welt gründet dem Gedicht zufolge im Missverhältnis zwischen der Zeit des Menschen und der Zeit der Welt. Die mangelnde Abstimmung oder auch „Aussöhnung" führt zu der fatalen Konsequenz, dass das mögliche Glück einer Einheit immer wieder verfehlt wird. Indem Goethe vom „trüben Blick" und von „verworrener Bestrebung" spricht, die das Schicksal des Menschen seien, ist dem Projekt der Aufklärung das Urteil gesprochen, deren Ziel es seit Leibniz war, alle trüben Wahrnehmungen aufzuklären und alle verworrenen Eindrücke in klare und distinkte zu überführen. Niemand sieht klar, alles blieb trübe und verworren. Die einen Überblick über die Irrgänge des Lebens verschaffende Mongolfière, stolzes Produkt aufgeklärter Wissenschaft, steht in diesem Gedicht nicht zur Verfügung. Ein Ausweg aus der von Diskrepanzen versehrten Lage des Menschen scheint sich mit der Liebe zu bieten, die wie der Advent des Absoluten im quälend Verworrenen und Trüben erscheint. Der Liebende regrediert, wird wieder selig „wie in der Kindheit Flor" und meint [End Page 471] im seligen Wahn, „die Welt gehört ihm an." Es folgt, so lehrt das dunkle Gedicht, die Enttäuschung auch durch die Liebe, die umso furchtbarer sein muss, als das ersehnte Gefühl von ozeanischem Einklang, „Paradies", und sei es in der Illusion, gekostet wurde. Wenn Liebe nicht bereits daran scheitert, dass der günstige Augenblick verfehlt wird, scheitert sie an und aus sich selbst, ist ihre eigene Vernichtung:
Doch tückisch harrt das Lebewohl zuletzt.
Innen und Außen passen nicht zueinander, fremd und gottverlassen steht der Mensch in seiner „biologischen Mittellosigkeit"29 in der trüben Welt. Die Zeit des Menschen ist nicht die Zeit der Welt und ihrer ewigen Ordnungen und Rhythmen. Das Gedicht An Werther antizipiert, wie zuvor punktuell Herder und Schiller, die Grundeinsicht der modernen philosophischen Anthropologie mit ihrer These von der ‚exzentrischen Stellung' (Plessner) des nicht festgestellten Tiers: „Der Mensch ist weltoffen heißt: er entbehrt der tierischen Einpassung in ein Ausschnitt- Milieu."30 Der einzige Ausweg, das Absolute, das Ewige und Wahre in dieser Welt zu erfassen, die Liebe, erwies sich gleichfalls als unbeständig. Der Selbstmörder, mit dem Goethe spricht und den er im Gedicht rechtfertigt, lächelt über die abfällig getönte Darstellung des Lebens, und es bleibt unklar, ob über den Klagenden oder in einer Art von wissender Zustimmung. Die Gleichung „Liebesbesitz = Selbstbesitz = Weltbesitz" ging nicht auf.
Der sarkastische Zug des Gedichtes setzt sich verstörend fort. Goethe bekennt dem „gefühlvoll" lächelnden toten Jüngling gegenüber ein, dass er es verstand, aus dem Suizid symbolisch und finanziell Kapital zu schlagen: „Wir feierten dein kläglich Missgeschick." Die literarische Darstellung des Schicksals eines Menschen, der sich angesichts der fatalen Liebestäuschung das Leben nahm, machte den Dichter Goethe berühmt und wohlhabend. Das Schockierende der Passage wird deutlich, wenn man etwa, wie Düntzer, das Gedicht auch als „eine Rede an das Werther- Modell Jerusalem" versteht.31 Nüchtern lässt er den Helden seiner Jugend wissen, dass er ihn nach dem Erfolg hinter sich ließ und sich erneut in den ewig gleichen Strudel von „Wohl und Weh" hinein stürzte, ins verwirrende Labyrinth der Leidenschaften, das von Trennung zu Trennung führt. Den Rat des Dichters, auf dem durch ‚des Tages unwillkommne Mühe' geprägten Lebensweg das große Leid zu meiden, das die Liebe ist, findet der alte Dichter „rührend", und offen bleibt, ob die Erinnerung an eigene Bemühungen rührt oder aber dieser Rat als rührende, naive Hilflosigkeit erachtet wird. Den Nachgeborenen vermag Goethe nur den Wunsch mit auf den Weg zu geben, dass, sollten sie gleichwohl in solche Qualen verstrickt werden, ihnen göttlicher Beistand werde, ein Beistand, den das ganze Gedicht nicht kennt, wie dieser Beistand auch dem Helden seiner Jugend fehlte. Der fromme Wunsch ist eingesponnen in eine weitere Variante [End Page 472] jener Verse aus dem Tasso, die die Elegie eröffnen, womit der Übergang zum nächsten Gedicht hergestellt wird:
Verstrickt in solche Qualen, halbverschuldet,Geb' ihm ein Gott zu sagen, was er duldet.
Das harte Gedicht An Werther kann die Apologie eines Selbstmörders, die es erstens ist, nur sein, weil es zweitens das Bekenntnis ist, das Leben des Menschen sei substantiell sinnlos. Ein Zugriff auf philosophische Einsicht, auf die begriffliche Formulierung des Lebenssinns wird in diesem radikalen Ausdruck der Depression ebenso wenig in Aussicht gestellt, wie anderseits der mögliche Trost durch einen Glauben nicht einmal der Erwähnung für wert befunden wird. Der Mensch ist eingeklemmt zwischen der Natur, der er in seiner reflexiv erlittenen Zeitlichkeit und wesentlichen Weltoffenheit fremd gegenüber steht, einerseits, und der Unnatur seiner vom Naturkreislauf emanzipierten Leidenschaft anderseits, die ihren extremen Ausdruck in der Möglichkeit des Selbstmordes findet, zu dem allein das Menschenwesen befähigt ist. Die Rede von der Über- Natur, die Rede vom Göttlichen in diesem Gedicht hingegen ist prekär. Sie ist direkt und exklusiv gebunden an die Möglichkeit der poetischen Sprache und findet ihren Ausdruck nur in einem im Potentialis gehaltenen Stoßgebet. Der Gott kann nicht das Leiden lindern, ihm Sinn geben oder es gar aufheben. Er kann nur die Fähigkeit verleihen, zu sagen, was man leidet, eine kathartische Funktion freigeben. Das Aussprechen als solches erscheint als der einzige Weg, der eine Alternative zum Selbstmord bereitstellt: das weltliche Evangelium. In diesem Gedicht erscheint weder die von Goethe pantheistisch umworbene Natur als möglicher Trost, noch erscheinen jenseits der wahnhaft Geliebten andere Mit- Menschen. Und es fehlt der von Goethe vielfach gegebene Rat, durch ‚Tätigkeit' dem Leben eine stabile Architektur aus Sublimierungsleistungen zu geben und dadurch die dem Menschen unangemessene Zeit vor der deprimierenden Leere des Müßiggangs zu schützen. Es sind drei Optionen des Lebens benannt: das einsame Dichten, die notwendig zum Scheitern verurteilte Passion, der Selbstmord. Das Gedicht an Werther, den Müßiggänger und Dilettanten in der Kunst, ist in der Tat ein neuer Werther, eben jener, den Goethe 1812 brieflich als einen Text annonciert hatte, der dem Publikum die Haare zu Berge stehen lassen werde.32
4. Elegie
Mit dem Fluss der Elegie lässt Goethe die Härte des Werther- Gedichtes formal hinter sich. An die Stelle der zerhackten Fügung ungleichmäßiger Strophenlängen und Reimstellungen treten im Geist des beim alten Goethe zu gläserner Artifizialität raffinierten Klassizismus sechszeilige Stanzen mit dem [End Page 473] konsequent durchgehaltenen Schema ab–ab–cc und regelmäßig schreitenden fünfhebigen Jamben. Das episch ausgreifende, seinen klaren psychologischen Gehalt im schönen Klangkörper und im Metapherngewebe verbergende Gedicht ist schwer zu überblicken, weshalb vor die Interpretation der Versuch einer Gliederung des Ganzen zu stellen ist.
Die erste, durch eine Volute abgesetzte Strophe etabliert die einfache und massive Opposition, die das gesamte Gedicht organisiert und deren Überwindung oder Aufhebung oder Sublimierung aller Anstrengung zum Trotz nicht gelingt: Bei der Geliebten zu sein, das ist das Paradies, die Trennung von ihr hingegen ist die Hölle. An diesem unverrückbaren psychologisch erotischen factum brutum eines Bestehens auf „Gegenwart" arbeitet sich die gesamte Elegie ab, von Anfang bis Ende:
Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen,Von dieses Tages noch geschlossn'er Blüte?Das Paradies, die Hölle steht dir offen;Wie wankelsinnig regt sich's im Gemüte!—Kein Zweifeln mehr! Sie tritt an's Himmelstor,Zu ihren Armen hebt sie dich empor.
Die Strophen 2 und 3 erzählen vom Glück der Begegnung und der Seligkeit eines gemeinsam mit der Geliebten verbrachten Tages. Die Gegenwart der Geliebten ist Erfüllung und bringt die drei Modi des Begehrens zum Erlöschen: „Dir blieb kein Wunsch, kein Hoffen, kein Verlangen" (Herv. E. G.). Die Strophen 4 und 5 schildern den grausamen Schmerz des abendlichen Abschieds und den elenden Zustand des einsamen Liebenden, der in die Tretmühle böser Gedanken gerät, die Reaktion auf die Trennung sind. Die Liste ist vollständig: „Mißmut" (der gegenwärtige Gefühlszustand) „Reue" (negative Perspektive auf Vergangenes), „Vorwurf" (gegen sich selbst oder die Geliebte, dass es zur Trennung kam oder auch Eifersucht), „Sorgenschwere" (Angst vor der Zukunft). In den Strophen 6 und 7 erfolgt der vorübergehende Versuch, sich durch die Wendung zur äußeren Natur vom Elend der Trennung abzulenken, der exemplarische Weg der Sublimierung: „Ist denn die Welt nicht übrig?" Doch empfiehlt die 8. Strophe angesichts der Flüchtigkeit und Instabilität natürlicher Erscheinungen, die zuletzt doch nur an die vermisste Geliebte erinnern, also die Sublimierung nicht zulassen, die Wendung nach Innen, um dort das Bild des verlorenen Objektes stabil aufzurichten: „In's Herz zurück, dort wirst du's besser finden." Die Strophen 9 bis 14 geben sich folgerecht der Erinnerung hin und spiegeln präzis im Gedächtnis das zu Anfang Berichtete: die Begegnung auf der Schwelle (9), die Beseligung durch die Gegenwart (11), die Situation der atemlosen Angst, ob es zu einem Wiedersehen kommt, oder nicht (12). Zuletzt wird die selige Intensität der Gegenwart mit der Liebe Gottes, die inneren Frieden schenkt, verglichen. Wie man es von der Gottesliebe lesen kann, so öffnet, beglückt und erfüllt die Gegenwart der Geliebten [End Page 474] das eisig in sich verschlossene Selbst (13, 14): „solcher seligen Höhe / Fühl' ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe." Insofern die Gegenwart der Geliebten Glück bedeutet, schließt sich der Kreis des Begehrens: Der Weg führt scheinbar hinauf, von der Wissenschaft über die Arbeit an der Seele hin zum Höchsten, der Religion. Aber dieses Höchste ist der Beginn: Die Religion ist nichts anderes als der Wunsch, in der Gegenwart des geliebten Wesens zu sein; sonst ist sie wesenlos.
Angesichts der Drehung im Kreis wird in den Strophen 16 und 17 an die Geliebte selbst, die höchste Instanz des Liebenden, die Lehre vom Leben in der Gegenwart delegiert, der Rat, wie ein Kind im Augenblick zu leben, ohne sich diesen durch die schlechte Aussicht auf die Trennung verderben zu lassen sowie dann, in der Trennung, der glücklichen Sekunden dankbar zu gedenken: „Nur wo du bist sei alles, immer kindlich, / So bist du alles, bist unüberwindlich." Strophe 18 weist diese Lehre verblüffend barsch zurück: „Du hast gut reden, dacht' ich." Der uneinsichtige Liebende, dem nicht zu helfen ist, insistiert auf der Gegenwart. Die Strophen 19 bis 23 berichten über das weitere Schicksal des endgültig Getrennten. Die zunächst heilsame Wirkung der „grenzenlose[n] Tränen" erweist sich als unzureichend, das Leiden zu stillen. Erinnerung an die Verlorene ist ebenfalls ungenügend, die Qual zu lindern. Im Gegenteil: Das Flackern zwischen Schattenhaftigkeit und grell blendender Präsenz der Bilder lässt sich nicht zur schönen Erinnerungsfigur entmächtigen oder zu einem Narrativ stabilisieren. In seiner zuckenden Instabilität entspricht das Flackern der Bilder exakt dem Kommen und Gehen der „Wellen des Todes", von denen Goethe in seinem Brief über das taedium vitae schrieb. Die Erinnerung lindert also das Leiden nicht, sie verstärkt es nur. Abgesetzt durch eine weitere Volute wird psychologisch konsequent zum Schluss beschrieben, wie ein Leben nach dem Flackern der Bilder und nach Ebbe und Flut der Schmerzen vollends erlischt; der Zusammenbruch ist nicht mehr zu verhindern, auch nicht durch die Goethe so teure Naturforschung. Als ein zweiter King Lear bleibt der Dichter allein in Moor und Moos zurück und ist zugrunde gerichtet.
Der Überblick über den Gang der Elegie lässt hervortreten, wie präzise Goethe den Verlauf einer Passion aufgezeichnet hat. Der verliebte Mensch will um jeden Preis alle Zeit in der körperlichen Nähe des geliebten Menschen verbringen, der zum transzendentalen Bezugspunkt avancierte, zur „Sonne", von der her allein sich die Welt als sinnvoll erschließt: „Da ruht das Herz und nichts vermag zu stören / Den tiefsten Sinn, den Sinn ihr zu gehören." Sobald die Gegenwart des geliebten Menschen nicht gegeben ist, fällt die ganze Welt in ein sinnloses Dunkel. Der Versuch, sich durch etwas anderes abzulenken, scheitert, weil der Liebende entweder nur den Mangel spürt oder aber in allem die Gestalt des geliebten Wesens wahrnimmt. So ruft der Anblick des zarten Luftgebildes, der sich verändernden Wolken, nur die Erinnerung an die tanzende Geliebte herauf. Der Versuch, die Trennung durch Erinnerung [End Page 475] einordnend zu bewältigen, scheitert. Mit psychologischem Scharfsinn lehrt Goethe, dass die Erinnerung, so lange die Passion andauert, nur die Sehnsucht nach einer Wiederherstellung von Gegenwart steigert, um die allein es geht. Der fiktive Dialog mit der Geliebten über das Leben im Augenblick macht sinnfällig, wie Goethe in der Tat in der Elegie ganz auf die Gegenwart setzt, in mehrfachem Sinn. Die Elegie spielt raffiniert mit zwei Bedeutungen von Gegenwart: Es dreht sich auf der einen Seite alles um die körperliche Präsenz der Geliebten. Gegen diesen drängenden Wunsch, gegen dieses Begehren nach beständiger Präsenz, wird die Lehre aufgeboten, in der Gegenwart zu leben und danach entweder zu vergessen oder dankbar zu erinnern. Doch erweist sich die Sehnsucht nach körperlicher Präsenz als zu machtvoll, um diese Lehre annehmen zu können. Dass Goethe stilistisch aus der Rolle fällt, wenn er auf die Lehre vom Leben im Augenblick mit der Bemerkung reagiert „Du hast gut reden, dacht' ich", unterstreicht energisch, dass der liebende Mensch auf das Eigentliche nicht verzichten, nicht sublimieren kann.
Goethes Elegie nimmt die von Freud inventarisierten wichtigsten Formen von Sublimierung—Wissenschaft, Religion, Identifizierung mit dem Objekt, Betäubung—erstaunlich vollständig vorweg, aber negativ: Sie funktionieren nicht. Die versuchte wissenschaftliche Tätigkeit beschwört nur das Bild der Geliebten herauf; Religion als Erfahrung der Seele wird nachvollziehbar nur in der Gegenwart der Geliebten, kann sie aber in der Situation der Trennung nicht tröstend ersetzen. Es ist dem liebenden Subjekt bei Goethe nicht möglich, das verlorene Objekt stabil zu internalisieren, sei es durch Identifikation ('Verjüngung'), sei es als psychisch neutralisiertes Objekt der Erinnerung. Das Bild der Geliebten flackert im Griff des Wiederholungszwangs. Hier wird eine Differenz deutlich zwischen dem Trauma, der Melancholie und dem Leiden in der Liebe. Während im Trauma die Mechanismen des Reizschutzes mechanisch die Situation nachholen, in der sie durchbrochen wurden und in der Melancholie das Ich nicht weiß, dass die herabsetzende Selbstanklage eigentlich eine Anklage ist, die dem verlorenen Objekt gilt, besteht die Grausamkeit der Liebesschmerzen darin, dass nichts geheim ist, sondern alles am sonnenhellen Tage liegt. Es dreht sich alles um die vermisste Gegenwart, die das liebende Ich einzig will. Und die flackernden Bilder sind nichts als ein Ausdruck dieses Schmerzes, der aus der erzwungenen Trennung resultiert. Der Mensch in seiner Qual weiß, was er duldet, und darin besteht das Schreckliche der Trennung:
Er wiederholt ihr Bild zu tausendmalen,Das zaudert bald, bald wird es weggerissen,Undeutlich jetzt und jetzt im reinsten Strahlen;Wie könnte dies geringstem Troste frommen,Die Ebb' und Flut, das Gehen wie das Kommen?
Selbst die niedere Form der Sublimierung als Surrogat, die bei Freud als Intoxikation begegnet, vermöchte allenfalls die körperlichen Schmerzen zu [End Page 476] lindern. Doch verweigert der Geist den Griff zu dieser Maßnahme der Medikation. Denn das lyrische Ich weiß, dass im Moment eines Nachlassens der Betäubungsmittel der Schmerz über die Trennung mit gleicher Intensität wieder präsent wäre (Ich lese also das „vermissen" i. S. von „vergessen"):
Wohl Kräuter gäb's, des Körpers Qual zu stillen;Allein dem Geiste fehlt's am Entschluß und Willen,Fehlt's am Begriff: wie sollt' er sie vermissen?
Die Elegie beschreibt durchaus offen den Zustand von Verbitterung, Schmerz und Leid, die in der Liebe jederzeit offen stehende „Hölle", und es fragt sich angesichts dieser Parallelität zum Werther- Gedicht, worin genau die Unterschiede bestehen.
Goethe fängt die Darstellung der dunklen Emotionen nicht nur im wieder hergestellten Wohlklang seiner Sprache auf (die Versendungen sind beinahe durchweg ‚weiblich'). Er federt sie zusätzlich dadurch ab, dass er sie nach vielfach bewährtem Verfahren einbettet in Naturmetaphorik, die sich organisiert um die Wortfelder des Winters für den Liebenden und die Semantik der Sonne für die Geliebte. Ferner wird die Artikulation der Verzweiflung dadurch objektiviert, dass Goethe sie literarhistorisch orchestriert, durch Anspielung insbesondere auf die Naturbilder des King Lear. Durch die skizzierten Maßnahmen wird die Wucht der Affekte gemildert, die daraufhin selbst als Naturphänomene erscheinen und nicht mehr, wie im Werther Gedicht, als Ausdruck der isolierenden Unnatur menschlicher Passion und der ihr unausweichlich korrespondierenden Melancholie aus Welt- Fremdheit. Über die Anordnung der Gedichte insistiert Goethe gleichwohl darauf, dass zwischen ihnen ein wesentlicher Zusammenhang bestehe. Er verdeutlicht, dass formale Reinheit und Wohlklang der Elegie möglich wurden, weil das lyrische Subjekt die schwarze Galle in ein anderes Gefäß angewidert ableiten konnte. Mit der Konstellierung der Gedichte unterstreicht Goethe zudem, dass die Elegie die Weltsicht des Werther- Gedichtes zur Voraussetzung hat. Die Elegie nimmt die nihilistische Perspektive nicht zurück, sie setzt sie voraus. Der souveräne Gebrauch von durch die Tradition legitimierter Naturmetaphorik—die gelungene Variation des Topos vom Alter als Erkaltung und Vereisung etwa—oder auch aus dem Umkreis spezifisch Goethescher Interessen—die Rede von den Atmosphären, die Liebe zu den Wolken—sollte nicht zu dem Fehlschluss verleiten, in der Elegie sei jene Einheit zwischen dem Leben des Menschen und dem Leben der Welt wieder restituiert, deren Fehlen das Werther Gedicht als das Los des Menschen, als Webfehler der Welt bestimmt hatte. Die Elegie bildet den Kontrast zum Werther- Gedicht nicht in der Hinsicht, dass sie, etwa über die Verehrung der Natur, dessen Weltsicht dementierte. Sie dokumentiert eine andere Reaktion auf dieselbe Lage der Seele. Sie dokumentiert sie inhaltlich zunächst dadurch, dass an die Stelle der Apologie des Selbstmords das demütige Sich- Zurückziehen und diskret einsame Sterben aus unglücklicher Liebe gesetzt werden. Der Selbstmord ist die grausamste Tat, die der [End Page 477] Liebende dem geliebten Menschen antun kann, insofern er sich für den Entzug der Gegenwart dadurch rächt, als schreckliche Erinnerung für immer im Kopf des / der anderen zu bleiben. Der Selbstmord, auch als literarische Darstellung, erzwingt die Gegenwart, die sich ohne Gewalt nicht ergab, und es gibt gute Argumente für die Auffassung, im Selbstmord aus enttäuschter Liebe ein gegen das eigene Selbst gerichteten Tötungswunsch zu erkennen, der ursprünglich dem geliebten Menschen galt: Gegenwart für immer auszuschließen und damit deren Entzug. Die aggressive Dimension des Werther fehlt in der Elegie vollständig. Hier wird der Selbstmord ersetzt durch die Geste der Dankbarkeit, die weder der Roman noch das Gedicht An Werther kennen. Der fernen Geliebten wird innigster Dank abgestattet dafür, dass sie die Welt erleuchtete und den Liebenden erneut sich selbst finden ließ. Der Elegie zufolge ist es nur der Dank, der die pathologische Überschätzung des geliebten Wesens in die Würde überführt, den anderen Menschen zu sehen und gehen zu lassen. Authentischer Dank ist die Sprachform gelingender Sublimierung in der Marienbader Elegie: Das Herz schlägt nur noch, „für alles ihr zu danken."
Die Differenz zur aggressiven Welt des Werther ist also vor allem etabliert dadurch, dass der einzig mögliche Weg gegangen wird, der nach dem vernichtenden Gestus noch bleibt: die Liebe als die große und fruchtbare Illusion dankbar zu feiern. Die Form, die das Gedicht annimmt, ist die des innigen Dankes. Motivisch gewinnt die Elegie ihre bezaubernde Wohlgestalt durch die rhetorisch glanzvoll inszenierte Gleichsetzung von geliebter Frau mit der alles erleuchtenden Sonne. Die Bekanntheit des Gedichtes lässt bei der Lektüre leicht übersehen, dass es bis zur dritten Strophe offen bleibt—und darin besteht die originelle Wendung, die Goethe diesem Topos abgewinnt—, ob das lyrische Ich die Sonne oder die Geliebte besingt. Selbst der Abendkuss der dritten Strophe könnte noch die alles überströmende Röte des Sonnenunterganges meinen. Erst die Schilderung des den Lebensfaden „grausam süß" zerschneidenden letzten Abschiedskusses lässt das Gedicht eindeutig in die Liebesklage einmünden. Auf die Nacht der Trennung folgt die Darstellung erneuter Begegnung, welche die Geliebte als aufgehende Sonne zelebriert:
Nun dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle,Sie selbst erscheint in milder Sonnenhelle.
Der strahlende Blick der Geliebten wird virtuos mit der wärmenden Frühlingssonne verglichen, die das alt gewordene starre Eis hinwegschauern lässt. Die Liebe, und nur die Liebe, eröffnet ein Verstehen. Vom strahlenden Licht der Liebe her lichtet sich die Welt „in milder Sonnenhelle." Erst durch Liebe wird der Reichtum der Natur sichtbar, von der Gestalt der geliebten Frau, von der überweltlichen Erfahrung der Liebe zu ihr aus wird der unendliche Wandel der Wolken, „das überweltlich Große, Gestaltenreiche, bald Gestaltenlose" zum Faszinosum, und es erfolgt, nach der Wendung zu sich selbst, die Belebung der Phantasie: [End Page 478]
Wie leicht, und zierlich, klar und zart gewobenSchwebt, seraphgleich, aus ernster Wolken Chor,Als glich' es ihr, am blauen Äther droben,Ein schlank Gebild aus lichtem Duft empor;So sahst du sie in frohem Tanze walten,Die lieblichste der lieblichsten Gestalten.
Doch nur Momente darfst du dich unterwinden,Ein Luftgebild statt ihrer festzuhalten;Ins Herz zurück, dort wirst du's besser finden,Dort regt sie sich in wechselnden Gestalten;Zu vielen bildet Eine sich hinüber,So tausendfach und immer, immer lieber.
Im alles erschließenden Licht der Liebe wird dem agnostischen Dichter selbst Glauben verständlich; durch das weltliche Evangelium der Liebe wird das Wort der Heiligen Schrift lebendig. Allerdings tritt mit dem lässig skeptischen „wir lesen's" ein Hauch von Voltaireschem Spott hinüber in die Elegie, was eine ironische Note in das durchweg ernste Gedicht bringt:
Dem Frieden Gottes, welcher euch hieniedenMehr als Vernunft beseliget—wir lesen's—,Vergleich' ich wohl der Liebe heitern FriedenIn Gegenwart des allgeliebten Wesens;Da ruht das Herz, und nichts vermag zu störenDen tiefsten Sinn, den Sinn, ihr zu gehören.
In unsers Busen Reine wogt ein Streben,Sich einem Höhern, Reinen, UnbekanntenAus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,Enträtselnd sich dem ewig Ungenannten;Wir heißen's fromm sein!—Solcher seligen HöheFühl' ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.
Schließlich ist Liebe der Königsweg zur Erneuerung des Ichs selbst, das sich verjüngt, sich selbst zugänglich und für andere aufgeschlossen wird. Vermittelt über die Liebe kommt das Subjekt zu sich. Der Weg zu sich selbst führt über die „Schwelle" der liebenden Entäußerung an einen anderen Menschen. Wer sich wegzuschenken vermag, der wird womöglich sich finden:
Von ihrem Blick, wie vor der Sonne Walten,Vor ihrem Atem, wie vor Frühlingslüften,Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten,Der Selbstsinn tief in winterlichen Grüften;Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert,Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert.
Liebe ist der Elegie zufolge die fruchtbare Illusion, der Naturbetrachtung, Religion, Kunst, Selbsterkenntnis und schließlich Geselligkeit entsprießen. [End Page 479] Sublimierung ist diesem Gedicht zufolge genau nicht ein Ersatz für die verlorene Liebe, ein Surrogat für die Versagung. Es verhält sich bei Goethe umgekehrt: Nur durch die Liebe, deren Strahl sich von dem geliebten Objekt weg bewegt, wird Welt erschlossen. Sublimierung tritt nicht an die Stelle der Liebe, sondern wird möglich durch Liebe, die die Welt erhebt. Der Gestus der Elegie ist daher viel freundlicher als der des Werther- Gedichtes. Anderseits verstärkt der Klagegesang die Tiefe der Trauer, insofern dem Gedicht jede Aggression, ein Lebenswille mit negativem Vorzeichen, fehlt. Die Elegie schweigt konsequent über die Altersdifferenz der Liebenden, und doch ist das hohe Alter des Dichters gegenwärtig, der als ein neuer Narr King Lear von seinen treuen Weggenossen in Moor und Moos Abschied nimmt. Zukunft kennt dieses Gedicht nicht mehr. Den anderen ist die Welt nicht etwa erschlossen, weil sie, anders als der alte liebende Mann, nicht blind vor Liebe sind. Es verhält sich erneut umgekehrt. Den Jüngeren steht neue Liebe bevor, die alles erleuchtende Illusion. Darin besteht der Todernst der Elegie, der weit hinausgreift über die Bitterkeit des Werther- Gedichtes: dass es eine letzte Liebe gibt, auf die keine weitere mehr folgen wird. Der Dichter lässt die Geliebte die Lehre vom erfüllten Augenblick sprechen, den paradoxen Rat, „immer kindlich" zu sein, Vergangenheit und Zukunft zu vergessen. Deutlich tritt das hohe Alter des Dichters hier hervor. Es ist keine Zeit mehr: „Du hast gut reden, dacht' ich." Die verblüffend prosaische Reaktion des lyrischen Ich unterstreicht, warum die Geliebte gut reden hat. Im Unterschied zum Dichter ist sie wirklich jung, nicht dem Tode nahe. Ihn aber „schreckt der Wink", sich von ihr zu entfernen, weil jede Trennung die letzte sein kann: „Was hilft es mir, so hohe Weisheit lernen!" Indem Goethe die Lehre vom Augenblick hier revoziert und von sich selbst abstößt in einer saloppen Wendung, wird klar, dass dieses Gedicht das Ende eines Lebens niederschreibt.
Die Elegie bestätigt also den im Werther- Gedicht konstatierten Zerfall der von Marianne Wünsch komprimierten Gleichung: „Liebesbesitz = Selbstbesitz = Weltbesitz", korrigiert diese Diagnose aber in einem zweiten Schritt, insofern die Liebe als erleuchtende Illusion gefeiert wird, für deren Erfahrung der Geliebten Dank gebührt. Die Erfahrung der Liebe bedeutet eine Erneuerung des Selbst und eine intensivere Erfahrung der Welt. Obwohl die Elegie die fatale Einsicht des Werther- Gedichtes in den Zerfall der idealistischen Einheit aus Liebe, Selbst und Welt paradox bestätigt, indem sie dankbar die fruchtbare Illusion bewahrt und sich für die Wiederholung öffnet, stürzt sie die Leser zuletzt in die Traurigkeit über die Endlichkeit des individuellen Lebens. Die letzte Liebe ist nicht nur die Erfahrung einer fruchtbaren Illusion, sie ist auch die unerträgliche Erfahrung endgültiger Trennung. Da der alte Mensch dem Tode nahe ist, wird jede Trennung zum memento mori, richtet der durch Trennungen skandierte Verlauf der Liebesbeziehung den Dichter zugrunde. Am Ende steht nichts mehr zwischen ihm und dem Tod, nicht einmal mehr eine Illusion. [End Page 480]
In der erst 1980 aufgefundenen Urschrift der Marienbader Elegie ist zwar der Gegensatz zwischen Gegenwart und Trennung, der das Bewegungsgesetz des Gedichtes bestimmen wird, bereits formuliert, aber es fehlt sowohl die Geste der Dankbarkeit als auch der Vergleich der Geliebten mit der Sonne, der bereits das Werther- Gedicht in seinem Umwerben von paradiesischer Wonne und hocherlauchter Sonne organisierte. Offenbar ermöglichte erst die zunehmende (räumliche) Distanz die Dankbarkeit. In einem seiner spätesten Gedichte führt Goethe Dankbarkeit und Sonne erneut zusammen, und dieses späte Gedicht wirft retrospektiv ein erhellendes Licht auf die Elegie:
In der gebundenen Reinschrift trägt das Gedicht den Titel Elegie, September 1823. Fünf Jahre später schreibt Goethe ein Gedicht, das den Titel Dornburg, September 1828 trägt. So weit ich sehe, ist der dergestalt nahegelegte sachliche Zusammenhang zwischen den beiden Gedichten bisher nicht wahrgenommen worden; in manchen Ausgaben der Gedichte Goethes, etwa in der Goethe- Ausgabe des Inselverlages, ist sogar der den intertextuellen Bezug diskret signalisierende Titel des Gedichtes von 1828 weggelassen. 1827 publiziert Goethe die Trilogie der Leidenschaft in der Ausgabe letzter Hand. Vermutlich hat die Drucklegung eine erneute Konfrontation mit der Leidenswelt der Elegie bedeutet, die sich dann im Dornburger Gedicht niederschlug. Bei diesem Gedicht, einem der letzten Gedichte Goethes überhaupt, handelt es sich um eine Komprimierung und Fortentwicklung der Marienbader Elegie, eine raffinierte und erschütternde Sublimierung der Sublimierung:
Dornburg, September 1828
Früh wenn Tal, Gebirg und GartenNebelschleiern sich enthüllen,Und dem sehnlichsten ErwartenBlumenkelche bunt sich füllen;
Wenn der Äther, Wolken tragend,Mit dem klaren Tage streitet,Und ein Ostwind, sie verjagend,Blaue Sonnenbahn bereitet;
Dankst du dann, am Blick dich weidend,Reiner Brust der Großen, Holden,Wird die Sonne, rötlich scheidend,Rings den Horizont vergolden.33
Erneut ist hier subtil der Bezug auf den Werther hergestellt, dessen Brief vom 10. Mai in seiner kunstvollen hypotaktischen Fügung der Wenn Dann Konstruktion vorbildlich wurde für Romanciers wie Jean Paul. Das Gedicht besteht aus einem einzigen Satz, der ein Konditionalgefüge formuliert: Wenn der Tag entsteht und du in der Lage bist, dein sehnlichstes Erwarten durch die Färbung von Blumenkelchen erfüllt zu sehen, wenn du das Drama des Streites [End Page 481] gelassen zu betrachten fähig bist, und es schließlich vermagst, der Sonne für die Erleuchtung und Färbung der Welt zu danken, erst dann wird es einen golden strahlenden Untergang geben.
Der Bezug auf Goethes Marienbader Liebe und ihre Verarbeitung in der Elegie ist eingewoben, insofern hier das Spiel zwischen Sonne und Geliebter genau umgekehrt, also tatsächlich gespiegelt wird. Konnte man zu Beginn der Elegie meinen, der Dichter besinge die Sonne, so ist es im Dornburger Gedicht für eine Sekunde genau umgekehrt: Mit der Großen, Holden könnte auch eine Geliebte gemeint sein. Strikt grammatisch wäre es sogar möglich, dass erst der Dank an die große holde Geliebte die Bedingung dafür erfüllt, dass die Sonne golden untergeht; es ist vom Wortlaut des Gedichtes her streng unentscheidbar, wie zu lesen ist.
Das Dornburger Gedicht bestätigt damit die oben auf die Elegie eingenommene Perspektive: Es ist der innige, von Groll und Bitterkeit freie Dank, der die eigentliche Sublimierung ausmacht. Erst wenn es gelingt, dem geliebten Menschen gegenüber Dank zu empfinden, dem tragischen Verlauf der Liebesgeschichte zum Trotz, erst dann wird es zu einem Sonnenuntergang kommen können, der den ganzen Horizont vergoldet. Es ist natürlich möglich, die Sonne als Metapher für eine göttliche Instanz zu lesen, in diesem Gedicht eine Art von Dankgebet zu erkennen. Aber eine solche Lektüre muss sich auf die auf die jenseits des Gedichtes angesiedelte Konvention stützen, der zufolge die Sonne womöglich das Auge Gottes ist oder auch dieser selbst. Das Dornburger Gedicht selbst hält sich strikt auf der Ebene genauer Naturbeschreibung. Es gibt den Text, und es gibt die Natur, in der die Sonne aufgeht und wieder untergeht. Der Verlauf des Gedichtes verfolgt diesen regelmäßigen Prozess mit der Genauigkeit einer Kamera und kommt jenem Zustand des Behagens sehr nahe, den Goethe erreicht sieht, wenn man sich an der Regelmäßigkeit zyklischer Verläufe meditierend erfreut. Gleichwohl ist auch in diesem spätesten Gedicht die in der Trilogie der Leidenschaft benannte Kluft zwischen Mensch und Welt nicht ganz geschlossen; es bleibt eine leise Irritation, eben die Doppeldeutigkeit, die unentscheidbar macht, ob der Geliebten oder der Sonne gedankt wird. Mit der Doppeldeutigkeit ist in der Sprache die Möglichkeit gegeben, die Unklarheit visueller Wahrnehmung darzustellen. Die Uneindeutigkeit der Verse entspricht dem getrübten Blick des endlichen Menschen auf eine Welt, deren Verläufe einer anderen Zeit unterstehen als er.
5. Aussöhnung
Wie kaum ein anderer Dichter hat Goethe das Genre des Gelegenheitsgedichtes zu kultivieren gewusst, bis zu dem Grade, dass beinahe seine gesamte lyrische Produktion unter diesen Titel gestellt wurde. Im Begriff des Gelegenheitsgedichtes schließen sich drei Aspekte zusammen, die in der Semantik von „Gelegenheit" beschlossen liegen. Zunächst—und ein solches Dokument [End Page 482] ist die Aussöhnung, die als Huldigung für die polnische Pianistin Maria Syzmanowska geschrieben wurde, deren Spiel Goethe bewunderte—ist das Gelegenheitsgedicht Element kultivierten geselligen Umgangs. Es hat Teil an der Sphäre des Spiels. Seine Erscheinungsformen spannen sich vom Improvisieren aus dem Stegreif und dem heiteren Wettbewerb im Salon über den freundlichen Gruß oder die huldigende Widmung an Personen bis hin zum erotisch- galanten billet doux. Zugleich wahrt der Begriff des Gelegenheitsgedichtes den wesentlichen Weltbezug insbesondere der Goetheschen Lyrik, eine Konkretion, die mehr meint als Anlässe in Gesellschaft, der monde: Die Welt überhaupt, ihre Erscheinungen in Natur, Gesellschaft und Einsamkeit bieten eine unendliche Fülle von Gelegenheiten, von Anlässen zum Gedicht, das damit zum bevorzugten Medium wird, Situationen in ihrer Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit einzufangen, zu bewahren, sie auszusprechen im wahren Bild. Im Begriff der Gelegenheit liegt schließlich der im düsteren Werther Gedicht als durchweg verpasst denunzierte glückliche Augenblick, Kairos, die Chance. Die Rede von der Gelegenheit wird hier zweipolig, bezieht sich zum einen auf den glücklichen Moment, in dem Leben gelingt, als auch auf die für die lyrische Produktion geistesgegenwärtig genutzte Situation und Stimmung. Auch der Dichter kann den fruchtbaren Augenblick treffen oder verfehlen, in dem ihm das Gedicht möglich wäre.
Die Stanzen besingen den Zauber der Musik, die als unendlich strömendes Therapeutikum den Krampf des Liebeskummers in Tränen zu lösen vermag und es ermöglicht, jene Dankbarkeit der Liebe gegenüber zu empfinden, die zentral in der Elegie steht. Wie genau das große Gedicht der Klage gearbeitet ist, wird an der Aussöhnung deutlich, die ein Wort kennt, das der Elegie konsequent vorenthalten wird. Dort ist von Sehnsucht, von Freude die Rede und mehr noch und immer wieder von großer Seligkeit. Goethes Phänomenologie der Liebe ist überaus präzise, da er der Liebesempfindung vieles zuschreibt, aber eines nicht: Glück. Während der Liebe wird der Liebende hin und her geworfen zwischen Paradies und Hölle. Dass Liebe, die Paradies und Hölle ist, ein Glück war, das wird erst erkennbar danach. Liebe wird verstanden nach ihrem Ende:
Und so das Herz erleichtert merkt behende,Daß es noch lebt und schlägt und möchte schlagen,Zum reinsten Dank der überreichen SpendeSich selbst erwidernd willig darzutragen.Da fühlte sich—o daß es ewig bliebe!—Das Doppel- Glück der Töne wie der Liebe.
Das Glück des Dichters Goethe bewährt sich im Arrangement der drei Gedichte zur Trilogie der Leidenschaft. Obwohl die Aussöhnung zuerst entstand, wirkt sie, als bilde sie die Synthese aus den beiden antithetischen Gedichten, die ihr vorangehen, als fasse sie zusammen mit einem zum Sprichwort [End Page 483] avancierten Gnomon: „Die Leidenschaft bringt Leiden!" Das entstehungsgeschichtlich a priori geglückte Gelegenheitsgedicht formuliert eine Aussöhnung zwischen An Werther und der Elegie. Aus dem schwarzen Gedicht wird aufgenommen die Trübe des Geistes und die Verworrenheit des Bestrebens, aus der Klage findet das aus Dankbarkeit schlagende Herz hinüber. Zuletzt formuliert die Aussöhnung die das gesamte Schreiben leitende Struktur der Sublimierung. Die „Überfülle" der Kunst reagiert als „überreiche Spende" auf das „Allzuviele", das verloren wurde, auf das „überschnell" Verflüchtigte. Die signifikant polar gesetzten Begriffe konvergieren im „über", im Bezeichnen des Unverhältnisses. Damit schließt sich der Kreis der Trilogie. Goethe bezeichnet das taedium vitae als eine natürliche wie unnatürliche Krankheit. Es ist die Leidenschaft, die die Doppelung von Natur und Unnatur für Goethe exemplarisch zur Erfahrung macht, zu einer unerträglichen Erfahrung. Die Zuneigung zu einem anderen Menschen, die Leidenschaft hier eines Mannes zu einer Frau, kann als ein rein natürliches Phänomen begriffen werden. Zwar ist auch der Mensch den großen zyklischen Verläufen unterworfen, nicht aber seine Leidenschaft. Sie ist entkoppelt vom Jahresrhythmus, kann sich ereignen zum falschen Zeitpunkt, beim falschen Objekt. Scheitern an der Macht der Zeit, die Ohnmacht des Menschen, das Scheitern an der Natur. Liebe, Leidenschaft sind genuin menschliche Phänomene. Tiere kennen sie in diesem Sinne nicht. Goethe sucht Zeit seines Lebens einen Ausweg aus der ebenso natürlichen wie unnatürlichen Krankheit, die aus der Passion hervorgeht. Die eine Tendenz ist die Richtung auf Natur. Wer es vermöchte, mit der Natur eins zu werden, entkäme der Krankheit. Die gesamte Anstrengung Goethes, die Natur zu verstehen, wird im Licht der Trilogie verblüffend verständlich als der ungeheure Versuch, dem Unnatürlichen zu entkommen, welches das Menschenlos ist. Der Trilogie der Leidenschaft zufolge ist es die paradoxe Leistung der Kunst, dem Menschen die das System überlastende Überfülle als Glück erfahrbar zu machen, die im Verhältnis zur Welt regelhaft in unendlichen Mangel umschlägt. Das Glück der Leidenschaft wird erst erfahrbar durch deren Sublimierung im Kunstwerk. Das ist Goethes Formel der gelungenen Sublimierung, die er aus dem Sublimen—der Überfülle des schlechthin Großen—unmittelbar ableitet. Durch die drei Gedichte der Trilogie zieht sich die Anrufung der dritten Möglichkeit, zu Natur und Unnatur in ein Verhältnis zu treten: Gemeint ist die Übernatur, das Göttliche, die Religion. Wenn der Mensch verstummt in seiner Qual, so wünscht Goethe, möge ein Gott ihm helfen, dass er sagen könne, was er leide. Das berühmt gewordene Motto der Elegie ist dann direkt dem Tasso entnommen:
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummtGab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.
Die Verse aus dem Tasso können gelesen werden als gnomische Verdichtung der Freudschen Sublimierungslehre. Dieser zufolge unterscheidet den Künstler [End Page 484] vom Menschen, dass er seine in der Wirklichkeit frustrierten Wünsche nach Macht, Erfolg und erotischer Erfüllung in Phantasien und Tagträumen befriedigt, die sich, zum Kunstprodukt ausformuliert, sozial rentieren, womit dem Künstler zuletzt real zufällt, was er sich zunächst nur erträumte. Der Erfolgsautor Goethe wäre selbst das große Beispiel für diesen Vorgang. Das Drama Tassos zeichnet ein anderes Bild; Goethe schildert das soziale Scheitern des Künstlers, der im Kampf um das ihm von der Macht entwundene Werk seine Reputation vernichtet und seine materielle Stellung ruiniert. Die zitierten Verse formulieren im Einklang mit dieser Tragödie des modernen Künstlers eine andere Konzeption als diejenige Freuds: Der Unterschied zwischen Künstler und Mensch besteht nicht in der Möglichkeit der Abfuhr der frustrierten Triebwünsche, sondern nur in deren schöner Artikulation: Der Gott hilft dem Künstler zu sagen, was er leidet, nicht aber, durch dieses Sagen das Leiden zu lindern oder zum Verschwinden zu bringen. Tasso ist unglücklich, und er scheitert, obwohl er begeisternd schreibt; das Ende stellt gelungenes Leben für ihn nicht in Aussicht. Es ist das Leiden, es ist die Erfahrung, nur nicht im Modus des Schweigens, sondern im Modus der Rede.
Tasso ist kein neurotischer Künstler, der im Missverhältnis zur realen Welt steht, sondern der Heros der Moderne, der das Realitätsprinzip selbst attackiert. Der Künstler, wie Goethe ihn zeichnet, bedeutet eine Erschütterung der Welt. Tasso lässt alle seine Mit- und Gegenspieler verändert zurück, konfrontiert sie mit einer ungeheuren Erfahrung, die sensu stricto „unvergleichlich" ist. Es ist Antonio, der pragmatische Weltmann und aggressive Repräsentant des Realitätsprinzips, der den bleibenden Schock am Ende entsetzt resümiert. Wenn es nichts gibt, womit man die erschütternde Erfahrung der Kunst vergleichen kann, so durchschlägt sie die gegebenen Raster der Wahrnehmung und Erkenntnis; ihr eignet eine ontologische Wucht, weil sie begreiflich macht, was Liebe ist, unsere Un- Natur:
Unglücklicher, noch kaum erhol' ich mich!Wenn ganz was Unerwartetes begegnet,Wenn unser Blick was Ungeheures sieht,Steht unser Geist auf eine Weile still,Wir haben nichts, womit wir das vergleichen.34
Das Unerwartete, das Ungeheure, mit nichts zu Vergleichende kehrt in der Trilogie wieder als die Rede vom Allzuvielen, Überschnellen, als Rede von der Überfülle und vom Überreichen. Was sich hier zeigt, ist der Gedanke, dass die Idee von Sublimierung von ihrem resignativen Moment zu entlasten, umzukehren und zu begreifen wäre als die Erscheinung des Sublimen, des schlechthin Großen. Die Erfahrung und die Existenz des Künstlers, die Produktion wie auch die Reproduktion der Werke schaffen keine Vorlust und keine Erleichterung. Kunst eröffnet vielmehr den Blick auf ein Ungeheures, das den Atem verschlägt und den Geist für einen Augenblick zum Stillstand kommen lässt, [End Page 485] weil ein Unvergleichliches erscheint. Sichtbar wird etwas, das mit nichts verglichen werden kann, etwas, das sich der differentiellen Ordnung von Teil und Gegenteil entzieht: „Wir haben nichts, womit wir das vergleichen."
Kunst und Künstlerexistenz sind eine Überschreitung in Richtung auf ein schlechthin Ungeheures, das der ästhetischen Theorie zufolge das Sublime ist. Die Produktion und Rezeption von Kunst räumen nicht weg oder ersetzen oder verdecken auch nur, was nicht zu ertragen ist, weil es ungeheuerlich ist. Kunst stellt aus und lässt zur Erfahrung werden, was ungeheuerlich ist, die unstillbare Passion, das Begehren. Erst durch die Sublimierung, lehrt Goethe, wird das ungeheure Ausmaß dessen sichtbar und als Erschütterung erfahrbar, was sublimiert werden sollte und im Kunstwerk sublimiert wird, indem es zur Erscheinung gebracht, ausgesprochen wird. Nicht verschwindet das Ungeheure durch Kunst, sondern es erscheint in ihr: Überfülle, Überreiches, Allzuvieles, Allzuschnelles, Alles. Goethe schreibt daher eine Trilogie der Leidenschaft, eine Trilogie, die die Leidenschaft selbst schreibt, beziehungsweise diktiert, und nicht eine Trilogie jenseits der Leidenschaft. Sublimierung heißt, dass in der Kunst erfahren werden kann, was im Leben vernichtend ist. Und das ist Goethes Begriff des Glücks.
Footnotes
1. Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Gesamtausgabe, Bd. 23 (München: dtv, 1962) 66
2. „Die wahre Poesie kündigt sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast der uns anhängt, in höhere Regionen, und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt daliegen. Die muntersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, durch eine glückliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmerz zu mäßigen." Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Gesamtausgabe, Bd. 24 (München: dtv, 1962 ),126
3. Goethe, Torquato Tasso. Gesamtausgabe, Bd. 10 (München: dtv, 1963), 227, Vers 3432 bis 3433
4. „Je offener wir für diese Genüsse sind, desto glücklicher fühlen wir uns; wälzt sich aber die Verschiedenheit dieser Erscheinungen vor uns auf und nieder, ohne daß wir daran teilnehmen, sind wir gegen so holde Anerbietungen unempfänglich: dann tritt das größte Übel, die schwerste Krankheit ein, man betrachtet das Leben als eine ekelhafte Last." Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Gesamtausgabe, Bd. 24 (München: dtv, 1962) 124.
5. „Nichts aber veranlaßt mehr diesen Überdruß, als die Wiederkehr der Liebe. Die erste Liebe, sagt man mit Recht, sei die einzige; denn in der zweiten und durch die zweite geht schon der höchste Sinn der Liebe verloren. Der Begriff des Ewigen und Unendlichen, der sie eigentlich hebt und trägt, ist zerstört, sie erscheint vergänglich wie alles Wiederkehrende. Die Absonderung des Sinnlichen vom Sittlichen, die in der verflochtenen kultivierten Welt die liebenden und begehrenden Empfindungen spaltet, bringt auch hier eine Übertriebenheit hervor, die nichts Gutes stiften kann." Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, ibid., 124
6. Marianne Wünsch, „Zeichen—Bedeutung—Sinn. Zu den Problemen der späten Lyrik Goethes am Beispiel der ‚Trilogie der Leidenschaft'", Goethe Jahrbuch, im Auftrage des Vorstands der Goethe- Gesellschaft hrsg. von Werner Keller, Bd. 108 (1991), 179–190, hier: 181
7. Wünsch, 187
8. Ibid.
9. Wünsch, 182
10. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Ernst Beutler (München: dtv, 1999), 75 (21.11.1823) [End Page 486]
11. Cf. Hans Leisegang, „Die Marienbader Elegie", Beiträge zur Einheit von Bildung und Sprache im geistigen Sein. Festschrift für Ernst Otto. Hrsg. von Gerhard Haselbach und Günter Hartmann (Berlin: De Gruyter, 1957), 385–404
12. Johann Wolfgang Goethe, Gedichte 1800–1832. Hrsg. von Karl Eibl (Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1998), 1051
13. August von Goethe an Ottilie am 13.9.1823
14. Jürgen Behrens, „Biographischer Hintergrund. Marienbad 1821–1823", Goethe. Elegie von Marienbad. Urschrift September 1823. Hrsg. von Jürgen Behrens u. Christoph Michel. Mit einem Geleitwort von Arthur Henkel (Frankfurt am Main: Insel, 1991), 92
15. Erich Trunz im Kommentar zur Elegie, Johann Wolfgang Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1. Hrsg. von Erich Trunz, München: Beck 1982), 761
16. „Stadelmann brachte zwei Wachslichter, die er auf Goethes Arbeitstisch stellte. Goethe ersuchte mich, vor den Lichtern Platz zu nehmen, er wolle mir etwas zu lesen geben. Und was legte er mir vor? Sein neuestes, liebstes Gedicht, seine Elegie von Marienbad. Ich muss hier in bezug auf den Inhalt dieses Gedichtes einiges nachholen. Gleich nach Goethes diesmaliger Zurückkunft aus genanntem Badeort verbreitete sich hier die Sage, er habe dort die Bekanntschaft einer an Körper und Geist gleich liebenswürdigen jungen Dame gemacht und zu ihr eine leidenschaftliche Neigung gefasst. Wenn er in der Brunnenallee ihre Stimme gehört, habe er immer rasch seinen Hut genommen und sei zu ihr hinunter geeilt. Er habe keine Stunde versäumt, bei ihr zu sein; er habe glückliche Tage gelebt; sodann, die Trennung sei ihm sehr schwer geworden und er habe in solchem leidenschaftlichen Zustande ein überaus schönes Gedicht gemacht, das er jedoch wie eine Art Heiligtum ansehe und geheim halte. [ . . . ] Als ich ausgelesen, trat Goethe wieder zu mir heran. „Gelt!" sagte er, „da habe ich Euch etwas Gutes gezeigt. In einigen Tagen sollen Sie mir darüber weissagen." Eckermann, Gespräche mit Goethe, 60f. (27.10.1823)
17. Cf. zum Folgenden den Kommentar von Erich Trunz, Goethe, Werke, 753f.
18. Goethe, Werke, 378
19. Ibid., Werke, 378
20. „Nicht unerheblich für ein genaueres Verständnis der Marienbader Situation und der Marienbader Gedichte ist vielleicht auch die Tatsache, dass Goethe schon im Februar 1823 schwer erkrankt war; man diagnostiziert heute eine Herzbeutelentzündung oder einen Herzinfarkt, und für den November einen Rückfall. Wenn hier so oft vom ‚Herzen' die Rede ist, von ‚innrem Bangen', ‚beklommner Herzensleere', oder wenn es heißt: „Schon rast's und reißt in meiner Brust gewaltsam", dann sind das wohl nicht bloße Metaphern. Goethe, Gedichte 1800–1832. Hrsg. von Karl Eibl, (Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1998), 1055
21. „Was finde ich? Einen, der aussieht, als hätte er Liebe, die ganze Liebe mit aller Qual der Jugend im Leibe. Nun, wenn es die ist: er soll davonkommen! Nein! Er soll sie behalten, er soll glühen wie Austernkalk; aber Schmerzen soll er haben wie mein Herkules auf dem Öta! Kein Mittel soll helfen; die Pein allein soll Stärkung und Mittel sein. Und so geschah's, es war geschehn! Von einem Götterkinde, frisch und schön, war das liebende Herz entbunden. Es war schwer hergegangen, doch die göttliche Frucht [die Elegie] war da und lebt und wird leben aus ihres Geistes Namen über Zonen und Äonen hinaustragen, und wird genennet werden Liebe, ewige allmächtige Liebe." Zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe, Gedichte 1800–1832. Hrsg. von Karl Eibl, (Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1998), 1053
22. Goethe, Torquato Tasso, 227, Vers 3427–3429
23. Die drei Gedichte, An Werther, Elegie und Aussöhnung werden hier und im Folgenden durchweg zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1800–1832, 456–462
24. Eckermann, Gespräche mit Goethe, 764 (1.12.1831)
25. Ibid., Gespräche mit Goethe, 764f. (1.12. 1831)
26. Goethe an Zelter am 3.12.1812, hier zitiert nach dem Kommentar von Erich Trunz, Goethe, Werke, 757.
27. Trunz, Goethe, Werke, 757f.
28. Goethe, Die Leiden des jungen Werthers (München: dtv Gesamtausgabe, Bd. 13, 1962), 149.
29. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (Frankfurt am Main / Bonn: Aula, 1966), 34.
30. Ibid., 35. Cf. bei Gehlen auch die Diskussion der Anthropologie Herders und Schillers.
31. Goethe: Gedichte 1800–1832, 1050 [End Page 487]
32. „Wenn das taedium vitae den Menschen ergreift, so ist er nur zu bedauern, nicht zu schelten. Daß alle Symptome dieser wunderlichen, so natürlichen wie unnatürlichen Krankheit auch einmal mein Innerstes durchrast haben, daran läßt „Werther" wohl niemand zweifeln. Ich weiß recht gut, was es mich für Entschlüsse und Anstrengungen kostete, damals den Wellen des Todes zu entkommen, so wie ich mich aus manchem spätern Schiffbruch auch mühsam rettete und mühselig erholte [ . . . ] Ich getraute mir einen neuen „Werther" zu schreiben, über den dem Volk die Haare noch mehr zu Berge stehen sollten als über dem ersten." Goethe an Zelter am 3.12.1812, Goethe, Werke, 757
33. Goethe, Gedichte 1800–1832, 700f.
34. Goethe, Torquato Tasso, 227, Vers 3289ff. [End Page 488]