
Die Wiederkehr der res publica. Zu literarischer Repräsentation einer politischen Idee im globalen Zeitalter ed. by Dariusz Komorowski
Der Titel dieses Bandes Wiederkehr der res publica ist die zentrale These, die in vierzehn interdisziplinären Aufsätzen (ohne thematische Unterteilung) als Basis den [End Page 398] demokratisch-republikanischen Staat für das Gemeinwohl analysiert. Die Ansätze in den sorgfältig recherchierten und dokumentierten Beiträgen (von fünf in der Schweiz, vier in Polen, zwei in Irland und je eine Person in Großbritannien, Italien und Deutschland tätigen Germanisten) sind weit gefächert und zeigen, dass Konflikte ein wichtiger Bestandteil der res publica sind. Die Hälfte der Essays setzt sich mit Deutschschweizer Literatur, Kultur und Politik auseinander, was "kein Zufall" sei, da sich die Eidgenossenschaft nicht nur selbst rühme, "die älteste funktionierende Demokratie" zu sein, "sondern europaweit als ein vorbildhaftes Politikmodell" gelte (14).
Der Band ist im Großen und Ganzen charakteristisch männlich orientiert, wie dies die historische res publica und ihr Wesen und Wirken essentiell waren, obwohl sich nach der Aufklärung auch vereinzelt Frauen am Diskurs beteiligten wie im Beitrag von Thomas Fries über Germaine de Staël und ihre Salon Gruppe Coppet dargelegt wird. Der Bogen wird aber nicht bis zur Frauenbefreiungsbewegung der 1960er und 1970er Jahre geschlagen, als mit dem Slogan "Das Private ist das Politische" eine neue, wieder zu entdeckende res publica die westlichen Nationen aufrüttelte, die mit einer veränderten gesellschaftlichen Realität konfrontiert waren. Das Private als das Politische, bzw., die Dichotomie zwischen der Privatsphäre und der Öffentlichkeit, wird zwar in einigen Beiträgen konkret angesprochen, jedoch werden weder feministisch-politische Theorien explizit beigezogen noch Genderfragen überhaut gestellt. Im Umfeld von zwölf männlichen Autoren, welche—mit einigen unten zu besprechenden, Ausnahmen—Texte von Schriftstellern und einflussreichen Philosophen verarbeiten, beteiligen sich lediglich zwei Autorinnen an der res publica Diskussion. Es sind dies Edda Sagarra mit einer Auseinandersetzung der res publica im Leben und Werk von Theodor Fontane und Claudia Nitschke, die mit komplexen theoretischen Antagonismen die res publica und eine posthumane Utopie in Verteidigung des Paradises (2016) von Thomas von Steinaecker zu deuten versucht. Diese Autorinnen analysieren eine Wiederkehr der res publica in der Literatur von männlichen, deutschen Schriftstellern. Vier Autoren (Adrian Madej, Thomas Fries, Daniel Rothenbühler, Wojciech Kunicki) konzentrieren sich, ohne Gender-Aspekte zu betrachten, mit kulturpolitischen Fragen auf Texte von Schriftstellerinnen. Das Politische in der Gemeinschaft und die freiheitliche, politische und kulturelle Identitätsbildung stehen im Mittelpunkt, sowohl bezüglich Germaine de Staëls Gruppe Coppet (Fries), von Rothenbühlers diskutierten Romanen der Migrationsschweizerinnen Melinda Nadj Abonji und Dana Grigorcea, von Kunickis Analyse von Leere Herzen von Juli Zeh und Madejs Politikdiskurs über Ansichten der belgischen Philosophin Chantal Mouffe.
Eine wirksame Praxis von res publica zum Wohl der globalen Nationengemeinschaften im Zusammenspiel mit einzelnen lokalen Gruppen ist heute angesichts der divergierenden Wahrheitsansprüche und der spaltenden politischen Entwicklungen [End Page 399] besonders bedroht. Die Aufsätze schaffen eine intellektuelle Basis, mit literarischen Repräsentationen die politische Idee der res publica global zu aktualisieren. In den meisten Beiträgen werden historische Beispiele, Definitionsversuche und Eigenschaften einer realen, reproduzierten oder imaginierten res publica diskutiert. Die dazu gebrauchten Genres reichen von Romanen, Science-Fiction und Dramatexten über Briefe, Essays, Reportagen und Kolumnen bis hin zu Reden zum schweizerischen Nationalfeiertag. Nur die Lyrik wird ausgelassen. Tobias Wegers Essay ist wegweisend in Bezug auf die "Bedrohung der res publica," ausgehend von der Antike und wie dieses Erbe von Staatsphilosophen vom 17. bis 20. Jahrhundert als die zivilisierte, demokratische Staatsräson konstituiert wurde. Ihre Erkenntnisse können zur "streitbaren Demokratie gegen Machtmissbrauch" (23) führen, meint Weger, und untermauert seine These mit Zitaten von Karl Loewenstein. Auch Elias Zimmermann stützt sich auf einen antiken Philosophen—auf Platon—, um einer kannibalistischen res publica im Drama Übergewicht des jung verstorbenen österreichischem Dramatikers Werner Schwab auf die Spuren zu kommen. Nicht der Staat, sondern die Bürgerinnen und Bürger stehen im Zentrum der res publica, heißt es in Kunickis Beitrag "Leere Herzen von Julie Zeh als eine philosophische Parabel" (187). Das Ethische sei das Politische, meint Rothenbühler und Gugliemo Gabbiadinis Auseinandersetzung mit Andres Veiels sieht ihn als "Aufklärer der Gegenwart zur Ausarbeitung der Zukunft" (213) im experimentellen, zeitgenössischen Theaterstück Let Them Eat Money.
Literatur ist immer politisch, auch wenn sie dies verneint und Philosophie ist immer literarisch, auch wenn sie dies gleichermaßen verneint. Diese oszillierende Konstellation ist erkenntlich in allen Beiträgen, bildet aber das Kernstück in einer Hommage von Werk und Leben des Schweizer Schriftstellers Thomas Hürlimann im Beitrag von Jürgen Barkhoff, und bezüglich der Werke von Gottfried Keller und Guy Krneta analysiert von Dominik Müller. Dariusz Komorowskis braucht eine Randfigur in der Schweizer Schriftkultur, Fredi Lerch und seine Reportagen, um einen "Gemeinsinn im Lokalen" (251) zu sehen.
Besonders sticht die Arbeit von Rothenbühler über die kulturelle Doppelbürgerschaft der aus Osteuropa in die Schweiz immigrierten Schriftstellerinnen hervor, welche sich mit ihrem Engagement für politische und kulturelle Neuräume und eine plurale Ethik der Gemeinschaft einsetzen. Theoretisch gewichtet Rothenbühler den schweizerischen, demokratischen Rechtsstaat mit Zitaten zum politischen Raum von Hannah Arendt. Diese Frauen könnten als Pionierinnen im Diskurs der Wiederkehr der res publica angesehen werden, werden aber nicht so dargestellt. Von historischen und aktuellen makropolitischen Überlegungen bis hin zu den mikropolitischen Fallbeispielen zu res publica (besonders bei Komorowskis), offerieren alle Aufsätze Paradigmen für eine globale, weiterführende, sich immer neu entwickelnde, menschliche Gemeinschaft.
Zusammenfassend wird zum "Überlebenskampf für die Demokratie" aufgerufen [End Page 400] wie Christian Weisflog (Neue Zürcher Zeitung, 10.12.2021) fordert. Dass Genderfragen ausgelassen wurden, stellt das größte Manko dar. Im globalen Zeitalter haben Frauen einen entscheidenden Einfluss, nicht nur als Schriftstellerinnen, Akademikerinnen und Wählerinnen, sondern auch als prozentmäßig einflussreiche Parlamentarierinnen, die Gesetze im Namen der res publica entwerfen und als Staatsoberhäupter umsetzen.