Reviewed by:

Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne ed. by Jürgen Brokoff et al.

Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne. Edited by Jürgen Brokoff, Joachim Jacob, and Marcel Lepper. Göttingen: Wallstein, 2014. Pp. 407. Cloth €49.90. ISBN 978-3835313101.

Wenn es die größte Auszeichnung eines Gelehrten sein mag, dass sich sein wissenschaftliches Werk über die Analyse des Untersuchungsgegenstands weit hinaus als Sprachrohr, Spiegel und Katalysator von mannigfaltigen Zeitströmungen erweist, dann gilt es, Norbert von Hellingrath (1888–1916) als zentrale Geistesfigur der klassischen Literaturmoderne seit 1900 zu entdecken. Verfasser einer Dissertation über Friedrich Hölderlins Pindar-Übertragungen (1911) und enthusiastischer Wiederentdecker des Spätwerks Friedrich Hölderlins ab 1800, entriss er diese Texte dem historischen Vergessen und der Pathologisierung als Verfallserscheinung des geistig Umnachteten. Hellingrath legitimierte Hölderlins Werke als eine die Schranken der klassisch-romantischen Ästhetik radikal durchbrechende Wortkunst, die er als Neuschöpfung griechisch-antiker Ausdruckskraft, als göttliche Verkündigung und vaterländische Weissagung pries. Seit 1913 wirkte Hellingrath als unermüdlicher Initiator und Teilherausgeber einer wegweisenden historisch-kritischen Ausgabe, die philologische Genauigkeit mit dem Ziel vereinte, Hölderlin nicht (allein) als historische Vergangenheitserscheinung, sondern als für das Schicksal des deutschen Volkes maßgebenden Zeitgenossen zu feiern. Der widerspenstige, sich mit dem seherischen Irrsinn seines Lieblingsdichters als intellektuelle Inspirationsquelle identifizierende Forscher wurde aus der wissenschaftlichen Versessenheit jäh in den Ersten Weltkrieg gerissen, wo er, aus einer Offiziers- und alten Fürstenfamilie stammend, im Alter von erst 28 Jahren nach anfänglicher Militärskepsis scheinbar furchtlos im Granatfeuer der Schlacht vor Verdun fiel. All dies und anderes trägt zu einer einzigartigen Biographie bei, die gleich nach Hellingraths Tod zum verklärenden Mythos vorherbestimmt schien.

Es ist dieses in seiner brutalen Kürze ungemein reich- und nachhaltige Forscherleben, das die Beiträger des vorliegenden Bandes auf seine vielfältigen Verflechtungen [End Page 202] mit wissenschaftlichen Paradigmen, literarischen Tendenzen und herausragenden Einzelpersönlichkeiten der Zeit hin transparent machen. Durch beispielhaft genaue Archivrecherchen, kritische Auswertung des zum Teil unveröffentlichten Materials und kenntnisreiche Verortung im historisch-kulturellen Umfeld gelingt es den Verfassern, Hellingrath als die wissenschaftliche Verkrustung der Zeit aufbrechende Stimme darzustellen, die sich emphatisch auf Hölderlins Anspruch auf dichterische Verkündigung gründete (Kurt Wölfel) und durch persönliche Bekanntschaften und den schnell sich verbreitenden Forscher-Elan auf breites Echo bei den geistigen und künstlerischen Größen der Zeit stieß.

Von den Affinitäten zum russischen Symbolismus, Futurismus und Formalismus (Aage A. Hansen-Löve, Jürgen Brokoff) über Walter Benjamins Übersetzungs- und Dichtungstheorie (Rainer Nägele) bis zu Hugo v. Hofmannsthal, Theodor Lipps und Wilhelm Dilthey (Joachim Jacob) reicht der gründlich dokumentierte Horizont. Dabei wird Hellingraths durchaus zwiespältiger Haltung zu Stefan George und Umkreis, besonders zu Karl Wolfkehl, Friedrich Gundolf und Ludwig Klages zu Recht viel Raum gegeben (Ute Oelmann, Birgit Wägenbaur, Francesco Rossi). Georges Standort zwischen Hölderlin und Hellingrath umkreist ein einleitendes Gespräch (Bernhard Böschenstein, Ulrich Raulff, Jürgen Brokoff). Nach anfänglich zwiespältiger Haltung gegenüber George als Sprachtechniker und Vertreter der Dekadenz unterwarf sich Hellingrath, wie Ute Oelmann zeigt, der ihn an Pindar erinnernden, herben Schlichtheit der Georgeschen Dichtung und ihrer ihm göttlich erscheinenden Macht. Hölderlins Scheitern an der Aufgabe, dem Volk das Göttliche dichterisch zu spenden, kennzeichne in Hellingraths Augen auch Georges Einstehen für ein “letztmögliches Gelingen von Kunst” in der Moderne kennzeichne (157). Dem “kauzige[n] Philologe[n]” näherte sich der Meister allerdings eher distanziert (155), obwohl Hellingraths Edition Georges Bild von Hölderlin als Seher eines Mythos geschichtlichen Neuanfangs und göttlicher Verkündigung entscheidend prägte (Wölfel, 121–122). Höchst gespalten und problematisch ist, wie Jörg Schuster deutlich macht, auch die Konstellation Hölderlin—Hellingrath—Rilke. In Rilke sah sich Hellingrath geradezu “verliebt wie ein kleines Mädchen” (192), und der Dichter wies nach den Neuen Gedichten hymnische Stilzüge der “harten Fügung” auf (194). Andererseits aber trägt Hellingraths Hölderlin-Sakralisierung auch zu Rilkes fataler Verbindung eines “pathetischen Kriegsgesang[s]” mit dem “Problem einsam-erhabenen Dichtertums” bei (201). Von Pindar bis Paul Celan (und darüber hinaus) reicht so die durch Hellingraths Vermittlung immer wieder aktualisierte Wirkung Hölderlins (Eugen Dönt).

In formanalytischer Hinsicht verdanken wir Hellingrath die Herausarbeitung des griechisch-antiken, bei Hölderlin aber auch bei Klopstock und George wiederentdeckten Stilprinzips der “harten Fügung,” welche die materiale Sinnlichkeit des sperrig und fremdartig aus dem syntaktischen Zusammenhang herausspringenden Einzelwortes meint, das ein reflektiert langsames, quasi akustisch orientiertes Lesen [End Page 203] erfordert. Die “harte Fügung” setzt Hellingrath als zukunftsweisend von der “glatten Fügung” ab, die das Wort dem syntaktischen Gesamtzusammenhang unterordnet, sich nur als bloßen Verweis auf den vorgeordneten, gedanklichen Inhalt und Träger gefühlshaft-bildlicher Assoziationen betrachtet und besonders in der überkommenen Dichtung der Romantik vorkommt. Die Entdeckung der “harten Fügung” dagegen liiert Hölderlin mit der Überwindung der Sprachkrise um 1900 und den Montagetechniken der europäischen Avantgarde, wobei die Deutung der Hölderlinschen Sprachverfremdung als Zeichen des Wahnsinns in positiv-poetische Leistung umgewertet werden kann (Jürgen Brokoff, Joachim Jacob, Gunilla Eschenbach, Gerhard Kurz, Jutta Müller-Tamm, Yvonne Wübben).

Den Abschluss des Bandes bilden eine ausführliche Dokumentation von Hellingraths Verhältnis zu Hugo von Hofmannsthal (Klaus E. Bohnenkamp) sowie die Edition von Hellingraths Referat über Georges Verlaine-Übertragungen aus seiner Studentenzeit (Maik Bozza). Bei mehreren Aufsätzen, wohl bedingt durch das ursprüngliche Format als Tagungsvorträge, ergeben sich Überschneidungen und Wiederholungen, die man vielleicht hätte kürzen können. Auch fehlt, wie leider bei Veröffentlichungen aus dem deutschsprachigen Raum so oft, ein gerade bei der hier dargebotenen Themenfülle nützliches Sachwortregister. Zudem hätte vielleicht eine synoptische Zeittafel zu Hellingraths Biographie und den zahlreichen Zeitströmungen und Persönlichkeiten die chronologische Orientierung erleichtert. Aber das sind verhältnismäßig unerhebliche Mängel im Vergleich zu den Verdiensten dieses Bandes. Er dokumentiert die nachhaltige Wichtigkeit Hellingraths für das Verständnis der poetisch richtungsweisenden wie politisch verstörenden Gegenwart Hölderlins in der klassischen Moderne und europäischen Avantgarde auf anschauliche und eindringliche Weise.

Rolf J. Goebel
University of Alabama in Huntsville

Share